Ich dachte immer, Briefe an den Weihnachtsmann landen im Schredder der Post bis ein unscheinbares, braunes Paket vor unserer Tür in Essen lag und mich eines Besseren belehrte.
Der November in Essen ist oft unbarmherzig. Der Himmel hängt tief und grau über dem Ruhrgebiet, und der Nieselregen scheint nie aufzuhören. Aber in diesem Jahr war das Wetter mein geringstes Problem. Die Kälte, die ich spürte, kam von drinnen. Aus unserer Wohnung in der dritten Etage eines Altbaus in Rüttenscheid.
Es war die Stille.
Zwölf Jahre lang war das Tappen von Pfoten auf dem Parkett der Soundtrack meines Lebens gewesen. Poppy, unser alter Golden Retriever, war mehr als nur ein Hund.
Für meine fünfjährige Tochter Mia war er Kopfkissen, Beschützer und bester Freund in einem. Als Poppy letzte Woche friedlich in seinem Körbchen einschlief und nicht mehr aufwachte, brach für Mia eine Welt zusammen.
Sie weinte nicht laut. Das machte es für mich noch schlimmer. Sie saß einfach nur da, starrte auf die leere Stelle im Flur, wo sein Korb gestanden hatte, und fragte mich immer wieder dasselbe: „Mama, ist ihm kalt? Da oben im Himmel, ohne sein Fell… friert er da nicht?“
Als Mutter willst du alles reparieren. Du willst Schmerz wegküssen und Pflaster auf Seelenwunden kleben. Aber gegen den Tod gibt es kein Pflaster. Ich fühlte mich hilflos.
Dann kam der erste Advent. Wir saßen am Küchentisch, draußen wurde es schon um vier Uhr dunkel. Plötzlich leuchteten Mias Augen auf. „Der Weihnachtsmann!“, rief sie. „Er hat doch einen Schlitten und dicke Decken. Er kann Poppy abholen und ihn warmhalten!“
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. „Das ist eine schöne Idee, Schatz.“
Wir holten Briefpapier. Mia konnte noch nicht viel schreiben, also diktierte sie mir, und ich schrieb mit meiner ordentlichsten Handschrift:
„Lieber Weihnachtsmann,
bitte hol unseren Poppy ab. Er ist letzte Woche gestorben und hat bestimmt Angst alleine. Er mag Würstchen und Kraulen am Bauch. Bitte nimm ihn mit in dein Haus, damit er es warm hat.
Danke.
Deine Mia.“
Sie bestand darauf, das letzte Foto, das wir von Poppy hatten – ein etwas verwackelter Ausdruck vom Sommerurlaub an der Nordsee – mit in den Umschlag zu legen. „Damit er ihn auch erkennt, Mama.“
Als wir den Brief in den gelben Briefkasten an der Rüttenscheider Straße warfen, adressiert an „Weihnachtsmann, Nordpol“, fühlte ich mich wie eine Verräterin.
Ich wusste, wie die Welt funktioniert. Ich wusste, dass irgendwo in einem Verteilzentrum der Post ein müder Mitarbeiter diesen Brief sehen, vielleicht kurz seufzen und ihn dann in den Papiercontainer werfen würde. „Unzustellbar“.
Die Tage vergingen. Jeden Nachmittag, wenn ich Mia vom Kindergarten abholte, war ihre erste Frage: „Hat der Weihnachtsmann schon geantwortet?“
Jedes „Nein“ brach mir ein kleines Stück mehr das Herz. Ich hatte schon geplant, ihr am Wochenende ein Stofftier zu kaufen, das Poppy ähnlich sah, um die Enttäuschung abzufedern. Ich redete mir ein, dass es eine Lektion des Lebens sei: Manchmal bekommt man keine Antwort.
Doch dann kam der 20. Dezember.
Ich kam spät von der Arbeit, vollgepackt mit Einkäufen, gestresst vom Vorweihnachtsverkehr auf der A40. Als wir die Treppen zu unserer Wohnung hochstiegen, sah ich es.
Da lag kein Zettel vom Zusteller, dass wir das Paket beim Nachbarn abholen müssten. Da lag ein echtes Päckchen. Eingewickelt in einfaches, braunes Packpapier. Keine bunten Firmenlogos. Kein Absender. Nur Mias Name stand darauf, in einer geschwungenen, altmodischen Schrift.
Mein Herz hämmerte. Ich schloss die Tür auf, und wir setzten uns auf den Boden. Mia zitterte vor Aufregung, als sie die Schnur löste.
Im Inneren lag ein wunderschönes Bilderbuch. „Der Sternenhund“. Es war eine Geschichte darüber, wie geliebte Haustiere zu Sternen werden, die nachts über uns wachen. Aber das war nicht alles.
Aus dem Buch fiel ein Umschlag. Und darin war Mias Foto von Poppy. Auf der Rückseite des Fotos klebte ein goldener Stern, und dazu lag ein handgeschriebener Brief auf dickem Papier bei:
„Liebe Mia,
vielen Dank für deinen Brief. Du hast eine tolle Mama, dass sie dir beim Schreiben geholfen hat. Ich habe gute Nachrichten für dich: Ich habe Poppy gefunden. Das Foto hat mir sehr geholfen, ihn sofort zu erkennen!
Er ist jetzt hier bei mir am Nordpol. Wir haben einen riesigen Kamin, vor dem er liegt. Es ist sehr warm hier drinnen, und er hat schon Freundschaft mit meinen Rentieren geschlossen (aber keine Sorge, er jagt sie nicht).
Poppy lässt dir ausrichten, dass er keine Schmerzen mehr hat. Er kann wieder rennen so schnell er will. Ich sende dir das Foto zurück, damit du es in dein Zimmer stellen kannst. Poppy ist sicher. Und er hat dich sehr lieb.
Fröhliche Weihnachten,
Der Weihnachtsmann.“
Ich saß auf dem Flurboden und weinte. Nicht nur ein paar Tränen, sondern richtig. Mia hingegen strahlte. Sie drückte das Foto und das Buch an ihre Brust. Zum ersten Mal seit Wochen war der ängstliche Schatten aus ihrem Gesicht verschwunden.
„Siehst du, Mama?“, flüsterte sie glücklich. „Ich hab’s doch gewusst. Ihm ist warm.“
An diesem Abend, als Mia endlich beruhigt einschlief, stand ich lange am Fenster und schaute auf die Lichter von Essen. Ich dachte an die unbekannte Person, die diesen Brief in die Hände bekommen hatte.
Es hätte so einfach sein können, den Brief wegzuwerfen. Es wäre vorschriftsmäßig gewesen. Niemand hätte es dem Postmitarbeiter verübelt. Aber jemand – vielleicht ein gestresster Vater, eine Großmutter in der Sortierstelle oder ein junger Azubi – hatte sich die Zeit genommen.
Jemand hatte den Brief gelesen. Jemand hatte sich von dem krakeligen Bild eines toten Hundes und der Bitte eines Kindes berühren lassen. Dieser Fremde hatte seine Arbeit unterbrochen, vielleicht sogar seine Pause geopfert, war in einen Buchladen gegangen, hatte dieses Buch von seinem eigenen Geld gekauft, das Porto bezahlt und eine Antwort verfasst, die meiner Tochter ihren inneren Frieden zurückgab.
Wir leben in einer Zeit, in der wir oft über Bürokratie schimpfen, über die Kälte der Gesellschaft und darüber, dass jeder nur an sich denkt. Wir starren auf unsere Handys und übersehen die Menschen um uns herum.
Aber dann passiert so etwas. Mitten im grauen Ruhrgebiet.
Das Paket enthielt keine teure Elektronik, keinen Schnickschnack. Aber es enthielt das wertvollste Geschenk, das man einem Menschen machen kann: Hoffnung und Freundlichkeit.
Ich weiß nicht, wer Sie sind, lieber Unbekannter bei der Post. Aber Sie haben dieses Weihnachten nicht nur ein kleines Mädchen gerettet, sondern auch den Glauben ihrer Mutter an das Gute im Menschen.
Das wahre Wunder von Weihnachten sind nicht die Geschenke unter dem Baum. Es ist die stille Freundlichkeit von Fremden, die nichts dafür erwarten.
Seien wir gut zueinander. Man weiß nie, wer gerade ein kleines Wunder braucht.
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