Ich dachte, mit dem braunen Paket vom 20. Dezember wäre alles erzählt. Ein kleines Wunder, ein warmes Ende, ein Punkt hinter einer Geschichte, die uns wochenlang die Luft genommen hatte. Aber schon am nächsten Morgen merkte ich: Für Mia war es kein Ende, sondern ein neuer Anfang.
Sie stand früh im Flur, noch im Schlafanzug, und hielt das Foto mit dem goldenen Stern hoch, als wäre es ein Beweisstück. Ihr Blick sprang nicht mehr panisch zur leeren Stelle, wo Poppys Körbchen gestanden hatte. Er blieb bei mir, fest und ruhig, als hätte sie in der Nacht etwas in sich wiedergefunden.
„Mama“, sagte sie, „wir müssen zurückschreiben. Sonst denkt er, wir haben’s nicht gemerkt.“
Ich wusste, dass sie „der Weihnachtsmann“ meinte. Und doch klang es, als würde sie über etwas Größeres sprechen: über Antwort und Gegenantwort, über das, was man nicht einfach nimmt, ohne wenigstens zu versuchen, etwas zurückzugeben.
„Ja“, sagte ich. „Wir schreiben.“
Wir setzten uns an den Küchentisch, genau wie beim ersten Brief. Draußen hing der Himmel über Essen wie nasses Tuch, und drinnen roch es nach Tee und Papier. Mia malte Sterne und ein großes Herz, und diesmal malte sie Poppy nicht traurig, sondern mit hochgezogener Schnauze, als würde er grinsen.
Ich schrieb, was sie diktierte, langsam und ordentlich, weil sie fand, dass man bei wichtigen Dingen nicht schludert.
„Lieber Weihnachtsmann“, sagte sie, „danke, dass Poppy nicht allein ist. Danke, dass du ihn warm hältst. Und danke, dass du mein Foto zurückgeschickt hast.“
Sie hielt kurz inne und presste den Stift fester auf das Papier, als müsste sie etwas durchdrücken. Dann schaute sie zu mir.
„Mama, schreib auch: Danke an den Menschen, der dir geholfen hat. Der hat bestimmt ein gutes Herz.“
Mir wurde eng im Hals. Nicht, weil es traurig war, sondern weil es so klar war.
„Das schreibe ich“, sagte ich.
Als der Brief fertig war, klebte Mia noch zwei kleine Sterne in die Ecke. Einen fürs „Nordpol-Haus“, wie sie es nannte, und einen „für den Menschen unten auf der Erde“. Ich ließ sie, obwohl ich wusste, dass es keine offizielle Adresse für so etwas gab.
Denn manchmal muss ein Kind nicht korrekt sein, sondern nur ehrlich.
Am selben Tag ging ich mit dem Brief nicht einfach zum nächsten Briefkasten. Ich ging zu einer Filiale, weil ich das Bedürfnis hatte, aus dem Unsichtbaren etwas Greifbares zu machen. Drinnen war es warm, es roch nach Karton, nach nassen Jacken, nach Alltag.
Hinter dem Schalter stand eine Frau mittleren Alters, die mich ansah, als hätte sie schon viele Gesichter gesehen, die mit einem Problem kamen. Sie hörte mir zu, ohne zu lächeln, ohne zu seufzen, einfach mit diesem stillen Ernst, der nicht mitleidet, aber versteht.
„Sie sind nicht die Erste“, sagte sie schließlich. „Und wahrscheinlich auch nicht die Letzte.“
„Passiert so etwas wirklich?“ fragte ich.
Sie hob die Schultern. „Nicht offiziell. Aber Menschen sind nicht nur Regeln. Manchmal… macht jemand etwas, weil er es nicht lassen kann.“
Ich nickte und spürte, wie mein Blick kurz auf ihren Händen hängen blieb. Hände, die jeden Tag mit Briefen, Paketen, Zetteln zu tun haben. Hände, die vieles wegschieben müssen, damit der Laden läuft.
„Ich will mich bedanken“, sagte ich. „Nicht bei einer Firma, nicht bei einem System. Bei dem Menschen.“
Sie lehnte sich ein wenig vor, als würde sie mir etwas Verratenes anvertrauen.
„Dann schreiben Sie es genau so“, sagte sie leiser. „Ohne Namen. Ohne Suche. Einfach: Danke. Das kommt an. Man hängt es manchmal aus. Man liest es in der Pause. Und es tut gut, wenn nicht immer nur Beschwerden kommen.“
Ihre Worte waren schlicht. Und genau deshalb glaubte ich ihr.
Zu Hause setzte ich mich noch einmal hin und schrieb einen zweiten Brief. Keinen an den Weihnachtsmann, sondern einen an „die Menschen, die Briefe anfassen, bevor sie verschwinden“. Ich schrieb, dass ein Kind getrauert hat und jemand ihr geholfen hat, ohne dafür etwas zu bekommen. Ich schrieb, dass diese eine kleine Handlung unser Weihnachten wieder weich gemacht hat.
Mia wollte unbedingt einen Satz hinzufügen. Ich ließ sie, obwohl sie die Buchstaben noch nicht sicher konnte. Sie malte ihn. Ein Herz, ein Hund, ein Stern. Und darunter drei krumme Striche, die sie für „Danke“ hielt.
Ich legte alles zusammen in einen Umschlag. Nicht, um jemanden zu entlarven. Nur, um nicht stumm zu bleiben.
Heiligabend selbst war ruhig. Keine große Bühne, kein Lärm, keine Menschenmenge. Mia stellte das Foto mit dem goldenen Stern auf die Fensterbank, so dass man es sehen konnte, wenn man im Bett lag. Der Stern fing das Licht der Kerze ein, und für einen Moment sah es wirklich so aus, als würde etwas darin glimmen.
Kurz bevor sie einschlief, fragte sie, als wäre es das Normalste der Welt:
„Mama, glaubst du, Poppy hört mich noch?“
Ich setzte mich an ihr Bett und strich ihr über den Kopf. Ich wollte nichts versprechen, was ich nicht halten konnte. Aber ich wollte ihr auch nicht das nehmen, was sie gerade trug.
„Ich glaube“, sagte ich, „dass Liebe nicht einfach weg ist. Sie wird nur stiller. Und manchmal… kommt sie als Gefühl zurück, wenn man sie braucht.“
Mia nickte. Dann flüsterte sie:
„Gute Nacht, Poppy. Bleib warm.“
Und ich stand in der Tür und dachte: Wenn das kein Wunder ist, dann weiß ich auch nicht, wie eins aussehen soll.
In den Tagen danach wurde das Leben nicht plötzlich leicht. Trauer ist nicht wie ein Schalter. Aber Mia war wieder Mia. Sie lachte im Kindergarten. Sie fragte nach Würstchen, ohne dass ich sofort an Poppy denken musste. Und manchmal, wenn sie an der leeren Stelle im Flur vorbeiging, blieb sie stehen, legte die Hand an die Wand und ging weiter, als hätte sie einen Gruß dagelassen.
Am Ende des Jahres lag ein Umschlag in unserem Briefkasten. Kein braunes Packpapier, kein Stern, keine große Inszenierung. Nur ein normaler Umschlag, neutral, zurückhaltend, als wollte er nicht auffallen.
Ich öffnete ihn in der Küche, während Mia am Tisch malte. Drinnen war ein kurzer Zettel, gedruckt, freundlich, mit ein paar Sätzen Dank für die Rückmeldung. Und darunter, fast unscheinbar, stand eine Zeile, handschriftlich ergänzt.
„Danke, dass Sie es nicht als selbstverständlich genommen haben.“
Mehr nicht. Kein Name, keine Geschichte, keine Bitte. Nur dieser Satz, der mir plötzlich den Atem anhielt.
Denn er klang nicht nach „Weihnachtsmann“. Er klang nach jemandem, der müde ist und trotzdem noch hinsehen kann.
Neben dem Zettel lag ein kleiner, sauber gefalteter Streifen Papier. Darauf eine E-Mail-Adresse. Und darunter, in derselben schlichten Handschrift:
„Wenn Sie möchten.“
Ich saß lange da, den Streifen zwischen den Fingern, und hörte nur das Kratzen von Mias Stift. Der Moment fühlte sich gleichzeitig wie eine Einladung und wie eine Grenze an. Man kann ein Wunder auch kaputtreden, wenn man es zu sehr festhält.
Mia sah auf.
„Ist das von ihm?“ fragte sie.
„Ich glaube“, sagte ich. „Von dem Menschen.“
Sie nickte ernst, als wäre das eine Aufgabe. Dann schob sie mir ihren Sternenstift hin, als würde sie sagen: Mach es richtig.
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