Ein einziges Licht bewahrt unsere gemeinsame Zeit, auch wenn alles dunkler wird

Ich lehnte den Anruf meiner Mutter um 20:12 Uhr ab.

Um 20:37 klingelte dasselbe Display wieder, aber die Stimme war nicht ihre.

„Ähm… guten Abend. Sind Sie der Sohn von Frau Krüger?“

Die Stimme klang unsicher, ein bisschen außer Atem.

„Ja“, sagte ich. Mein Herz wurde sofort schwer. „Wer spricht denn da?“

„Hier ist Ihr Nachbar, Herr Lehmann. Ihre Mutter ist gerade vor dem Haus gestürzt. Auf dem Gehweg. Sie wollte noch schnell Streusalz streuen. Sie… wollte Sie eigentlich anrufen.“

Der Flur meiner Berliner Altbauwohnung wurde plötzlich eng. Die Wände rochen nach nasser Wäsche und Staub, als hätten sie sich zugezogen.

„Ist der Rettungswagen unterwegs?“, fragte ich.

„Ja, sie ist ansprechbar, aber sie hat Schmerzen in der Hüfte. Sie wollte nicht, dass ich Sie beunruhige.“ Kurze Pause. „Aber ich hab gedacht… lieber doch.“

Während er sprach, sah ich ihr verpasstes Klingeln über der Uhrzeit: 20:12. Unsere Zeit. Meine Ausrede.

Auf der Fahrt über die dunkle Autobahn dachte ich an das, was ich nicht hören wollte.

Der Tag war voll gewesen: Meetings, Mails, noch ein Meeting, das genauso gut eine E-Mail hätte sein können. Als ihr Name auf dem Bildschirm aufleuchtete, stand ich gerade an der Bürotür, halb im Gespräch mit einem Kollegen, halb mit dem Kopf schon beim nächsten To-do.

Ich hatte auf „Ablehnen“ gedrückt. Reflex.

Ich rufe später zurück.

Später schon, aber nicht zurück.

Jetzt saß ich im Auto, die Scheinwerfer fraßen die nasse Fahrbahn, und jedes Schild mit „Ausfahrt“ fühlte sich an wie ein Vorwurf. Ich versuchte, Lehmanns Worte auseinanderzunehmen, nach etwas zu suchen, das harmlos klang: Sie ist ansprechbar. Sie hat Schmerzen. Sie wollte Sie nicht beunruhigen.

Ich wusste, wie meine Mutter war.

Sie war die Generation, die sagt: „Komm nur, wenn du Zeit hast“, und dann trotzdem jede Stunde auf die Uhr blickt.

Als ich klein war, gab es eine andere Uhrzeit, die alles bestimmte: 20:12.

Eine Kleinstadt in Norddeutschland, Reihenhaussiedlung am Stadtrand. Der Bus fuhr nur einmal pro Stunde, die Straßenlaternen summten leise, als wären sie müde.

„Wenn du später als acht kommst, rufst du mich um 20:12 Uhr an“, sagte meine Mutter, während sie den Küchentisch abwischte. „Da sitze ich hier. Genau hier.“ Sie klopfte auf den Platz am Fenster, als wäre er offiziell registriert.

Sie stellte den alten Küchentimer daneben, den mit dem wackelnden Hahn oben. Und wenn das Rädchen auf die 12 sprang, griff sie nach dem Telefonhörer, als könnte sie mich durch die Leitung ziehen.

Manchmal stellte sie die Lampe über der Haustür schon früher an. Ein schummriges, gelbliches Licht, das die Stufen nur halb traf und die Motten zu kleinen Satelliten machte. Ich konnte es vom Ende der Straße sehen.

Mein eigenes Leuchtfeuer.

Mein „Hier“.

Die Klinik roch nach Desinfektionsmittel und Müdigkeit. An der Anmeldung nannte ich ihren Namen, meinen Namen, und das Wort „Sturz“ schmeckte nach Schuld.

„Station 3, Geriatrie“, sagte die Frau am Empfang, ohne aufzusehen.

Auf dem Gang hörte ich diesen typischen Ton der Monitore – kein Piepen, eher so ein gedämpftes Atmen. Ich fand sie in einem Mehrbettzimmer, hinter einem halb zugezogenen Vorhang.

Sie sah klein aus im weißen Bett, die grauen Haare wirr auf dem Kissen, ein blauer Fleck zog sich von der Hüfte bis fast zum Knie. Aber die Augen – hell, wach, leicht genervt.

„Na toll“, sagte sie, als sie mich sah. „Du hast doch morgen bestimmt ein wichtiges Meeting.“

Ich setzte mich auf den Stuhl neben ihr. „Das hier ist wichtiger.“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „So sagen Kinder immer, wenn sie schon alles verpasst haben.“

Wir schwiegen einen Moment.

„Wie ist es passiert?“, fragte ich leise.

Sie sah zur Decke. „Es hat geschneit. Der Gehweg war glatt. Ich wollte nicht, dass der Postbote ausrutscht. Hab die Haustürlampe angemacht, den Eimer Streusalz genommen… und dann war da dieser eine Schritt zu viel.“

Sie machte eine kleine Handbewegung, als würde sie eine Geste im Raum nachzeichnen. „Peng. Alte Knochen, harter Boden.“

„Warum hast du mich nicht gleich angerufen?“

Sie lächelte müde. „Hab ich ja versucht. Um 20:12. Aber du warst wohl beschäftigt.“

Der Satz tat mehr weh als das Krankenhauslicht.

Später, als sie schlief, saß ich im Besucherzimmer und ließ ihr Handy in meiner Hand rotieren. Der Akku war fast leer, der Bildschirm leicht gesprungen.

Eine neue Voicemail blinkte.

Ich drückte auf Play.

Ihre Stimme, ganz nah, leicht atemlos. Man hörte ein leises Knacken, wahrscheinlich der Flur ihrer Wohnung, der bei jedem Schritt protestierte.

„Hallo, mein Schatz. Ich bin’s. Ich hab das Licht an der Haustür angelassen. Ich vermisse einfach deine Stimme. Ruf an, wenn du kannst. Ich bin ja hier.“

Ich bin ja hier.

Als hätte sie Sorge, ich könnte vergessen, wo „hier“ ist. Oder wer.

Ich drückte die Nachricht noch einmal ab.

Überall in meinem Leben gab es Erinnerungen daran, erreichbar zu sein: Outlook-Pop-ups, Teams-Benachrichtigungen, rote Kreise mit Zahlen in den Apps. Nur bei ihr hatte ich es geschafft, aus „immer erreichbar“ ein „irgendwann mal“ zu machen.

Sie durfte nach drei Tagen nach Hause. Kein Bruch, nur eine schwere Prellung, sagten sie. Für mich klang es trotzdem wie eine Verwarnung.

Ich trug ihre Tasche, sie tippelte neben mir, stolz darauf, ohne Rollator zu laufen. Draußen war der Schnee zu grauem Matsch geworden. Der Gehweg vor ihrem Reihenhaus sah harmlos aus, als wäre er nie gefährlich gewesen.

„Du brauchst eigentlich jemanden, der dir hilft“, sagte ich, als wir stehenblieben.

„Ich habe doch jemanden“, sagte sie. „Ich hab Herrn Lehmann, der immer aus dem Fenster guckt. Und ich habe dich.“

„Ich wohne 250 Kilometer entfernt“, murmelte ich.

Sie zuckte die Schultern. „Entfernung ist eine Ausrede. Kein Maßband für Liebe.“

Oben in der Küche stellte sie Teebeutel in die Tassen, als wäre nichts gewesen. Der Tisch war der gleiche wie früher, nur die Tischdecke hatte jetzt kleine Kaffeeflecken in der Form von Ländern, die keiner kennt.

„Mama“, sagte ich schließlich, „ich hab dein Klingeln gesehen. Neulich. Um 20:12. Und weggedrückt.“

Sie hielt kurz inne, der Löffel in ihrer Hand schwebte über der Tasse.

„Ich weiß“, sagte sie.

„Woher?“

„Weil danach kein Rückruf kam.“

Sie setzte sich mir gegenüber, Hände um die Tasse gelegt.

„Ich will dir kein schlechtes Gewissen machen“, begann sie. „Du hast dein Leben. Deine Arbeit. Deine… wie heißen die noch, diese Powerpoint-Schlachten?“

Ich musste lachen, obwohl mir nicht danach war. „Präsentationen.“

„Siehst du.“ Sie lächelte. „Ich will nicht, dass du mich als To-do-Liste fühlst.“

„Und ich will nicht, dass du auf einem kalten Gehweg liegst, weil du Angst hast, mich zu stören“, sagte ich.

Wir sahen uns lange an. Irgendwo in der Wohnung tickte eine Uhr, langsamer als mein Herz.

„Dann machen wir einen Deal“, sagte sie schließlich. „Du rufst nicht an, wenn du gerade untergehst. Aber wir geben uns eine Zeit, die uns gehört. So wie früher mit 20:12. Und wenn es nur zwei Minuten sind. Kein Pflichtprogramm, sondern…“

„…ein Licht?“, fragte ich.

Sie nickte. „Ein Licht reicht.“

Ab der nächsten Woche stellte ich mir einen Wecker auf dem Handy: 20:10 Uhr.

Der Ton war leise, fast freundlich. Mama stand als Termin.

Nicht jeden Abend passte es genau. Manchmal war ich noch im Supermarkt, manchmal in der U-Bahn, manchmal mitten in einer E-Mail. Aber ich rief an.

Nicht immer lang.

Manchmal nur:

„Alles gut bei dir?“

„Ja. Und bei dir?“

„Auch.“

Sie erzählte von der Frau aus dem Erdgeschoss, die immer noch über die Mülltrennung schimpfte. Von der Bäckerin, die zu viel Hefe im Teig hatte. Von ihrem Blutdruck, der laut Arzt „für ihr Alter ganz okay“ war.

Ich erzählte von meinem Chef, der jede E-Mail ausdruckt, als gäbe es noch Aktenordnerpflicht. Von der neuen Kollegin, die bei jedem Meeting mit „Ich hab da mal eine Frage“ anfängt und dann einen Vortrag hält.

Nichts Dramatisches. Nichts Instagram-Taugliches.

Nur Leben.

Der erste echte Test kam an einem Montag.

Ich war noch im Büro, das Neonlicht machte aus jedem Gesicht eine schlechte Kopie. Die Powerpoint-Folie starrte mich an, noch drei Punkte fehlten, und die Deadline war am nächsten Morgen.

20:10 Uhr vibrierte mein Handy. Mama.

Ich sah auf den Bildschirm.

Ich sah auf die Folie.

Früher hätte ich gesagt: Ich rufe später zurück.

Dieses Mal sagte ich: „Entschuldigung, ich brauche kurz zehn Minuten“, stand auf und ging in das Treppenhaus.

„Na, du Rebell“, begrüßte sie mich, als sie ranging. „Du gehst doch nicht etwa während der Arbeit telefonieren?“

„Skandal“, sagte ich. „Wie war dein Tag?“

„Ich hab versucht, die alte Nähmaschine anzuschmeißen“, erzählte sie. „Sie macht jetzt so ein Geräusch, als würde sie sich beschweren, dass sie alt ist. Kommt dir das bekannt vor?“

Wir redeten vielleicht fünf Minuten. Dann gingen wir wieder in unsere Welten zurück. Aber irgendetwas in mir war verrutscht – diesmal an die richtige Stelle.

Es blieb nicht perfekt. Manche Abende verpasste ich, wenn auch knapp. Manchmal war sie gerade bei einer Bekannten oder unter der Dusche. Wir sind Menschen, keine Zeitstempel.

Im Januar kam noch einmal Schnee. Dieses Mal ließ sie den Eimer mit Streusalz stehen.

„Ich habe Herrn Lehmann gesagt, er soll streuen“, meinte sie. „Der ist zehn Jahre jünger. Er braucht Aufgaben.“

An einem dieser Abende stand ich mit ihr vor der Haustür. Die Luft war klar, der Atem dampfte. Sie zeigte auf die Lampe über der Tür.

„Weißt du“, sagte sie, „ich hab die nie nur für dich angemacht. Erst war sie für deinen Opa, als er Spätschicht hatte. Dann für deinen Vater, als er oft zu spät kam. Und dann für dich. Am Ende…“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Am Ende war sie wohl mein eigener Trost. Das Gefühl: Irgendjemand könnte da draußen kommen. Und wenn nicht, dann ist es trotzdem hell.“

„Und jetzt?“, fragte ich.

„Jetzt mache ich sie um 20:12 Uhr an, damit du weißt: Ich bin da. Aber ich sitze nicht mehr dahinter und halte die Luft an.“

Sie lächelte. „Ich atme. Und wenn du anrufst, ist es schön. Wenn nicht, geht die Lampe eben wieder aus.“

Als ich am Sonntag nach Berlin zurückfuhr, steckte sie mir etwas in die Hand. Ein altes Rezept, vergilbt, die Schrift leicht verwischt.

„Was ist das?“

„Dein Lieblings-Blechkuchen.“

Oben stand, in ihrer krakeligen Schrift:

„Nicht Zucker vergessen – kleine Dinge ändern alles.“

Zu Hause klebte ich das Rezept mit einem Magneten an den Kühlschrank. Daneben stellte ich eine kleine Tischlampe auf das Fensterbrett, eine, die niemand wirklich braucht.

Ich beschloss, sie immer um 20:12 Uhr einzuschalten. Auch wenn ich sie selbst kaum sehe.

Sie hat niemandem etwas zu sagen. Kein Nachbar wird deswegen gerettet, kein Paketbote stolpert weniger.

Aber jedes Mal, wenn das Licht angeht, denke ich an eine Frau in einer Reihenhaussiedlung, die ihre Haustürlampe anknipst und vielleicht gleichzeitig auf mein Display schaut.

Wir verpassen immer noch Abende.

Manchmal rufe ich zu spät an, manchmal sie zu früh.

Manchmal reden wir lange, manchmal nur zwei Sätze.

Aber die Anrufe sind keine Entschuldigungen mehr.

Sie sind kleine Anker in einem Land aus Terminen, in dem Menschen zu oft sagen: „Ich melde mich“ und es nicht tun.

Wenn du noch eine Nummer hast, die du wählen kannst, dann nimm das hier ruhig als Schubs:

Warte nicht auf den perfekten Moment.

Mach ihn.

Schalte ein Licht an.

Und sag jemandem, dessen Stimme du vermisst, bevor du es nur noch in Voicemails hörst:

„Ich bin da. Jetzt.“

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