Ein einziges Licht bewahrt unsere gemeinsame Zeit, auch wenn alles dunkler wird

Teil zwei dieser Geschichte begann nicht mit einem Sturz, sondern mit einem Datum, das so harmlos auf dem Kalender stand, dass ich es fast überblättert hätte bis mir auffiel, dass selbst Lampen mit der Zeit dunkler werden.

Es war zwei Jahre nach ihrem Unfall.

Die Sache mit 20:12 hatte sich eingespielt wie das Zähneputzen.

Nicht mehr heldenhaft, nicht mehr dramatisch.

Eher wie eine kleine, leise Gewohnheit, die zwischen all den Pflichtterminen zu einem Ort geworden war, an dem nichts fertig, aber alles in Ordnung sein durfte.

„Du klingst müde“, sagte sie oft.

„Du klingst wach“, gab ich zurück.

Und jedes Mal hörte ich im Hintergrund dieses vertraute Geräusch: den Küchentimer mit dem wackelnden Hahn, der zwar längst nicht mehr zuverlässig tickte, aber immer noch so tat.

An diesem Abend im März – draußen hing der Winter wie eine schlechte Laune über den Häusern, vibrierte mein Handy um 20:10 wie immer.

Mama.

Ich drückte auf Annehmen, noch bevor der zweite Ton kam.

„Na, pünktlich wie die Bahn früher mal war“, sagte sie zur Begrüßung.

Ihr Humor war unverändert.

Ihre Stimme auch nur ein kleines bisschen kürzer im Atem.

„Wie geht’s der Hüfte?“, fragte ich.

„Wir sind eine Zweckgemeinschaft“, antwortete sie. „Sie knackt, ich ignoriere es, und am Ende kommen wir beide die Treppe hoch.“

Wir redeten über nichts Besonderes.

Über den Nachbarn, der sich beschwert hatte, weil jemand den Papiermüll falsch sortiert hatte.

Über ihren neuen Wasserkocher, der mehr piepste als kochte.

Über meine Präsentation, die ich am nächsten Tag halten musste und von der sie behauptete, sie sei bestimmt „wieder so ein Folienfeuerwerk“.

„Mach dir nicht so viel Stress“, sagte sie zum Schluss. „Die Leute vergessen eh die Hälfte. Aber dass du angerufen hast, das vergess’ ich nicht.“

Es war einer dieser Sätze, die im Moment ganz leicht klingen und später schwer werden.

Ein paar Wochen später saß ich in einem Hotelzimmer in München.

Business-Teppich, der nach nichts roch, Vorhänge, die auch bei Sonne Nacht spielten, ein Schreibtisch, der genauso gut überall stehen konnte.

Ich war früh angereist, die Konferenz sollte am nächsten Morgen starten.

Um 19:55 Uhr klappte ich den Laptop zu.

Um 20:10 Uhr vibrierte mein Handy, wie immer.

Ich stand am Fenster, schaute auf eine anonyme Hauptstraße hinunter und drückte auf Annehmen.

„Rate mal“, sagte sie, bevor ich „Hallo“ sagen konnte.

„Du hast im Lotto gewonnen und brauchst mich nicht mehr?“

„Fast“, lachte sie. „Ich war heute beim Arzt. Blutdruck okay, Zucker okay, nur das Herz ist ein bisschen beleidigt. ‚Altersangemessen‘, hat er gesagt. Was für ein blödes Wort.“

Etwas in meinem Brustkorb zog sich zusammen.

„Was heißt denn ‚beleidigt‘?“

„Es schlägt eben, wie ein Herz schlägt, das schon viel gearbeitet hat“, sagte sie. „Mach dir nicht gleich so viele Gedanken. Ich hab nur gedacht, ich sag’s dir, bevor irgendein Arzt dir irgendwann irgendwas Unfreundliches am Telefon erzählt.“

Wir schwiegen kurz.

Der Straßenverkehr draußen klang durch das geschlossene Fenster wie eine entfernte Erinnerung.

„Dafür hab ich heute was anderes gemacht“, fuhr sie fort. „Ich habe deine Lampe geputzt.“

„Meine Lampe?“

„Na, die über der Haustür. Ich hab mir gedacht, wenn du schon jeden Abend irgendwo ein Licht anmachst, kann ich ja dafür sorgen, dass meines nicht aussieht, als wäre es aus dem vorigen Jahrhundert. Obwohl… ist es ja.“

Ihr Atem ging ein wenig schneller, als sie lachte.

„Mama“, sagte ich, „du sollst nicht auf der Leiter rumturnen.“

„War ich gar nicht“, log sie, und wir wussten beide, dass es gelogen war.

Zwei Tage später rief mich Herr Lehmann an.

Diesmal war es nachmittags, kurz vor vier.

„Ihre Mutter ist im Krankenhaus“, sagte er. „Nicht gestürzt. Das Herz.“

Die Fahrt kam mir kürzer vor als beim letzten Mal, obwohl ich genauso viele Kilometer fuhr.

Vielleicht, weil ich inzwischen wusste, welche Ausfahrten ich nehmen musste.

Vielleicht auch, weil ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, zu spät zu sein, obwohl mich niemand gerufen hatte mit den Worten „jetzt, sofort“.

In der Klinik war es stiller als auf der Geriatrie damals.

Intensivstation, sagte der Pfleger.

Mehr Apparate, weniger Worte.

Ich fand sie in einem Einzelzimmer.

Sie war wach, aber müde.

Ihre Hände wirkten plötzlich zerbrechlich, als gehörten sie jemandem, den ich nur aus Fotos kenne.

„Da bist du ja“, sagte sie, als hätte sie auf mich gewartet, um dann loszulassen – nur tat sie es nicht.

„Hättest du nicht einfach wieder auf den Gehweg fallen können? Damit kenne ich mich wenigstens aus“, versuchte ich zu scherzen.

Sie verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln.

„Diesmal hat das Innenleben gedacht, es will auch mal Drama machen.“

Der Arzt sprach von „Herzschwäche“ und „wir beobachten“.

Keine klaren Antworten, nur Kurven auf einem Monitor, die auf und ab gingen wie die Linien in meinen Excel-Tabellen.

„Weißt du, was komisch ist?“, flüsterte sie später, als wir allein waren.

„Was?“

„Dieses ganze Gepiepe hier… es erinnert mich an deinen Küchentimer von früher. Nur steht hier nicht ‚Kuchen ist fertig‘, sondern eher ‚Leben ist… na ja, in Bearbeitung‘.“

„Bitte fang keine metaphysischen Vergleiche mit Kuchen an“, murmelte ich.

„Warum nicht?“, flüsterte sie. „Beim Backen ist es wie im Leben. Wenn du ständig die Ofentür aufreißt, um nachzuschauen, fällt dir alles zusammen.“

Sie schloss die Augen.

„Also hör auf, immerzu die Tür aufzureißen. Setz dich. Ich bin noch da.“

In dieser Nacht schlief ich kaum.

Ich saß auf einem dieser Stühle auf dem Flur, auf denen schon tausend andere gewartet hatten, dass irgendeine Tür aufgeht.

Mein Handy lag auf meinem Knie, das Ladegerät in der Steckdose, als wäre der Akku meines Lebens daran gekoppelt.

Um 20:10 Uhr am nächsten Abend vibrierte es.

Ich hatte mir den Wecker nicht ausgestellt.

Ein kleines, trotziges Signal: Unsere Zeit.

Ich ging ans Fenster des Flurs, von dem man nur den Parkplatz sah.

Ich wählte ihre Nummer, obwohl ich wusste, dass sie ein Zimmer weiter lag.

Es klingelte.

Im Zimmer nebenan klingelte es ebenfalls, gedämpft.

Dann hörte ich ihre Stimme, schwach, aber klar.

„Bist du jetzt verrückt geworden?“, flüsterte sie. „Du sitzt doch hier im gleichen Haus.“

„Ich weiß“, sagte ich. „Aber 20:12 gehört uns. Egal, wo wir sind.“

Sie lachte leise.

„Du Romantiker. Hättest du mal früher damit angefangen, hättest du bestimmt mehr Freundinnen gehabt.“

Wir redeten nur kurz.

Über den Pfleger, der ihr die Haare geflochten hatte, „damit ich nicht aussehe wie ein explodierter Staubwedel“.

Über das Essen, das nach nichts schmeckte, aber „wenigstens warm war“.

Als ich auflegte, war mir plötzlich klar, dass dieses Ritual nicht dafür da war, die Angst vor dem Ende wegzutelefonieren.

Es war dafür da, die Zeit davor weniger leer zu machen.

Sie blieb noch ein paar Wochen im Krankenhaus.

Ihr Herz wurde mit Medikamenten beschwichtigt, als wäre es ein unruhiger Gast, den man mit Tee und Decken überredet, doch noch zu bleiben.

Sie war müde, aber präsent.

Und ja, wir haben auch in dieser Zeit manchmal 20:12 verpasst.

Manchmal war eine Schwester im Zimmer, manchmal ein Arzt, manchmal war ich gerade auf der Toilette.

Menschen, keine Zeitstempel.

Als sie schließlich nach Hause durfte, war sie langsamer geworden.

Die Treppe wurde zum Gegner, der täglich neu verhandelt werden musste.

Der Küchentimer blieb öfter stehen.

Die Haustürlampe dagegen funktionierte wie immer.

„Du brauchst wirklich jemanden, der bei dir wohnt“, sagte ich eines Abends, als wir zusammen in der Küche saßen.

„Ich hab jemanden“, erwiderte sie. „Ich habe dich. Auch wenn du nicht hier schläfst, bist du hier.“

Sie tippte sich auf die Brust.

„Hier drin. Und auf dem Display.“

Es war ein Jahr später, an einem Sonntag im Herbst, als das Datum vom Kalender sprang.

Nicht mit einem Knall, eher mit einem leisen Rascheln.

Das Datum, an dem sie ging.

Kein dramatischer Moment, keine Sirenen.

Sie war eingeschlafen, sagten sie, ganz ruhig, in ihrem Bett.

Herr Lehmann hatte das Licht über ihrer Haustür gesehen, das diesmal einfach weiterbrannte, obwohl niemand mehr darunter saß.

Die Beerdigung war klein.

Ein paar Nachbarn, ein paar Verwandte, der Pastor, der ihren Namen falsch betonte.

Ich stand da, hielt einen Zettel mit Dingen in der Hand, die ich sagen wollte, und sagte am Ende fast nichts davon.

Nur einen Satz brachte ich über die Lippen:

„Meine Mutter hat mir beigebracht, dass Liebe manchmal einfach nur bedeutet, um 20:12 Uhr ans Telefon zu gehen.“

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