Nach der Beerdigung fuhr ich in ihr Haus.
Es roch noch nach ihrem Waschmittel, nach Tee, nach diesem undefinierbaren Duft, den nur Menschen haben, die immer am gleichen Ort gewohnt haben.
In der Küche lag der Küchentimer mit dem Hahn auf dem Tisch.
Jemand – wahrscheinlich die Nachbarin – hatte ihn aufgezogen.
Er stand auf der 12.
Daneben lag ein Zettel, ihre Schrift, krakelig, aber eindeutig.
„Wenn ich mal nicht mehr rangehe: Such dir eine neue 20:12-Uhr-Stimme. Niemand sollte alleine im Flur stehen.“
Ich setzte mich hin und weinte zum ersten Mal, seit der Anruf gekommen war.
Nicht nur um sie, sondern auch um all die Momente, in denen ich hätte sagen können „Ich bin da“ und es nicht getan hatte.
Ein paar Wochen später saß ich wieder in meiner Berliner Altbauwohnung.
Der Flur roch wie immer nach nasser Wäsche und Staub.
Die Stadt draußen tat so, als wäre nichts passiert.
Um 20:10 vibrierte mein Handy.
Der Wecker.
Ich hätte ihn ausstellen können.
Stattdessen öffnete ich meine Kontakte.
Ich blieb an einem Namen hängen, den ich sonst immer ignoriere: mein Onkel, seit Jahren verwitwet, allein in einer zu großen Wohnung.
Danach sah ich den Namen eines Kollegen, dessen Vater vor Kurzem gestorben war.
Dann den einer alten Freundin, mit der ich seit Jahren nur noch „Wir sollten mal wieder telefonieren“ geschrieben hatte.
Ich atmete ein.
Ich wählte.
Es wurde kein tiefes, philosophisches Gespräch.
Es wurde sogar ein bisschen holprig, wie Telefonate, die kein festes Skript haben.
Aber irgendwann lachte er, und ich lachte mit.
Und genau in diesem Moment drehte ich mich um und schaltete die kleine Lampe auf meinem Fensterbrett an.
Jetzt, wenn mein Handy um 20:10 vibriert, denke ich nicht mehr nur: Ich muss Mama anrufen.
Ich denke: Irgendwo wartet vielleicht jemand auf ein Licht, von dem er gar nicht wusste, dass es angehen könnte.
Die Nummern in meinem Handy werden mit der Zeit weniger werden.
So ist das Leben.
Aber solange noch eine da ist, die ich wählen kann, weiß ich, was zu tun ist.
Vielleicht ist das der eigentliche Deal, den meine Mutter mit mir gemacht hat, ohne dass ich es begriffen habe:
Wir können das, was wir verpasst haben, nicht nachholen.
Aber wir können dafür sorgen, dass andere nicht auf einem kalten Gehweg liegen oder in einer stillen Küche und denken, sie wären nur eine Störung im Kalender.
Also klingelt es weiter um 20:10.
Nicht perfekt, nicht jeden Abend, aber oft genug.
Und jedes Mal, wenn ich die kleine Lampe anschalte, höre ich ihre Stimme in meinem Kopf:
„Ein Licht reicht.“






