Ein Fell für die Seele | Sie wollte niemanden mehr an sich heranlassen bis ein Hund ihr Leben veränderte

🐾 Teil 4: Meerane


Am Sonntag fuhr Ulrike los.

Zug nach Glauchau, dann Regionalbahn weiter nach Meerane.

Bolle lag ruhig zu ihren Füßen. Kein Jaulen, kein Unmut. Nur hin und wieder ein vorsichtiger Blick nach oben, als wollte er fragen: Wirklich? Wir zwei? So weit?

Die Schachtel mit dem Halsband trug sie im Rucksack. Ihre Finger umklammerten das Lederband, wann immer der Zug ruckte.

Meerane war kleiner, stiller als sie gedacht hatte. Die Straßen schienen langsamer zu atmen, die Häuser alt, aber würdevoll.

Ulrike hatte die Adresse aus dem Tierarztbericht mitgenommen. Gregor P., geboren 1964, gestorben 2021. Letzter Wohnsitz: Schubertstraße 5.

Sie ging die Straße zu Fuß entlang. Bolle an der Leine. Der Himmel war klar, aber das Licht hatte etwas Wintermüdes.

Das Haus war ein zweistöckiger Altbau mit Holzfenstern, gelber Putz, ein wenig abblätternd. Im Vorgarten ein Vogelhäuschen, leer.

Sie blieb stehen.

Kein Klingelschild mit Gregors Namen.

Nur „Fam. Reinhardt“.

Sie zögerte.

Dann klingelte sie doch.

Eine ältere Frau öffnete. Graue Haare, Brille mit goldenem Rand.

„Entschuldigung… ich suche jemanden, der hier mal gewohnt hat. Gregor P. Vielleicht sagt Ihnen das was?“

Die Frau blinzelte.

„Gregor… ja. Der hat hier gewohnt. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Ich bin seine Schwester.“

Ulrike nickte langsam.

„Dann… tut es mir leid. Ich wusste das nicht. Ich habe seinen Hund.“

Die Frau runzelte die Stirn.

„Seinen Hund? Aber… Nero war doch… Wir dachten, er sei überfahren worden. Er war nach Gregors Tod einfach weg. Niemand hat ihn wiedergefunden.“

„Ich habe ihn vor zwei Monaten aus dem Tierheim geholt. Er hatte keinen Namen mehr, keine Papiere. Nur ein altes Halsband.“

Sie nahm die Schachtel aus dem Rucksack und öffnete sie.

Die Frau legte die Hand an den Mund.

„Das ist es. Das war sein Halsband. Mein Bruder hat ihn geliebt. Mehr als jeden Menschen, glaub ich.“

Ulrike trat einen Schritt zur Seite.

„Das ist Bolle. Oder… Nero.“

Die Frau kniete sich langsam hin.

„Mein Gott… das bist wirklich du.“

Bolle blieb ruhig. Er schnupperte an ihrer Hand, dann leckte er einmal darüber.

Die Frau lächelte unter Tränen.

„Er hat immer nur einen Menschen an sich herangelassen. Meinen Bruder.“


Drinnen roch es nach Tee und Möbelpolitur.

Ulrike saß auf einem altmodischen Sofa, Bolle lag zu ihren Füßen.

Die Frau, sie hieß Hannelore, brachte ihr eine dampfende Tasse.

„Ich hab manchmal gedacht, er kommt zurück. Einfach so. So wie früher, als er mal zwei Tage weg war und plötzlich wieder auf dem Hof stand.“

Sie setzte sich.

„Mein Bruder war… speziell. Er war Kraftfahrer, fuhr immer Nachtschicht. Hatte nicht viele Freunde. Aber Nero war sein Ein und Alles.“

Ulrike hörte zu. Still.

Hannelore fuhr fort:

„Nach seinem Tod hab ich versucht, den Hund zu behalten. Aber der war so verstört… lief weg, sobald ich die Tür aufmachte. Und dann… war er einfach fort.“

Sie sah Bolle an, fast zärtlich.

„Dass er noch lebt, ist ein Wunder. Und dass ausgerechnet Sie ihn gefunden haben…“

Ulrike räusperte sich.

„Ich war auch ein bisschen verloren. Vielleicht hat uns das verbunden.“


Sie gingen gemeinsam in den kleinen Garten hinter dem Haus.

Ein schlichtes Grab, rechteckig eingefasst mit Steinen.

Kein Kreuz, nur eine Metallplatte.

Gregor P.
1964–2021
Ein stiller Freund.

Ulrike trat näher.

Bolle blieb zuerst zurück.

Dann, ganz langsam, kam er dazu.

Er setzte sich vor das Grab. Starrte auf die Erde.

Und blieb dort. Minutenlang.

Kein Laut. Kein Zucken.

Einfach nur da.

Hannelore wischte sich über die Augen.

„Das hat er verdient, mein Bruder. Einen letzten Besuch von jemandem, der ihn liebte.“

Ulrike kniete sich hin.

„Ich glaube, er weiß es.“


Sie aßen zusammen Abendbrot. Zwei Teller, zwei Tassen, eine Schale mit Wasser.

Dann verabschiedete sich Ulrike.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie.

Hannelore nahm ihre Hand.

„Ich danke Ihnen. Dass Sie ihn nicht aufgegeben haben.“

„Er hat mich auch nicht aufgegeben.“


Im Zug zurück nach Zwickau schlief Bolle zum ersten Mal auf der Seite.

Voll ausgestreckt.

Ulrike streichelte ihm über den Rücken.

„Du bist nicht mehr verloren. Und ich auch nicht.“

Der Zug ratterte leise durch die Nacht.

Im Fenster spiegelte sich ihr Gesicht.

Nicht schön. Nicht jung.

Aber lebendig.


Zu Hause angekommen, legte Bolle sich sofort auf seine Decke.

Er schnaufte tief.

Ulrike setzte sich auf den Boden.

Die Schachtel mit dem Halsband stand nun offen auf dem Regal.

Daneben ein kleines Foto.

Gregor mit Nero.

Aufgenommen irgendwann in einem anderen Leben.

Manchmal reicht ein Grab, um wieder an das Leben zu glauben.

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