🐾 Teil 5: Das Licht im Flur
Seit dem Besuch in Meerane war etwas anders.
Nicht laut. Nicht plötzlich. Aber spürbar.
Ulrike stand morgens leichter auf. Der Kaffee blieb nicht mehr kalt. Sie begann, wieder zu essen, nichts Besonderes, aber regelmäßig. Ein belegtes Brot, ein Apfel, eine Suppe aus dem Glas.
Bolle war wie immer ruhig. Er fraß, schlief, lief neben ihr her. Aber er blickte sie jetzt öfter an, suchte Nähe.
Wenn sie auf dem Sofa saß, legte er seinen Kopf auf ihren Oberschenkel.
Wenn sie weinte, was manchmal noch passierte, blieb er einfach da. Keine Flucht, kein Misstrauen.
Er verstand die Art von Schmerz, die kein Arzt benennen kann.
An einem Donnerstag stand Ulrike vor dem Kleiderschrank.
Ganz hinten hing ein altes weißes Kasack-Oberteil. Krankenhauskleidung. Vergilbt am Kragen, Flecken, die nie ganz rausgingen.
Sie strich mit der Hand darüber.
„Frau Mettner…“, flüsterte sie.
Der Name hallte in ihrem Inneren wie ein verlorenes Lied.
Es war der Tag, an dem sie aufgehört hatte.
Die alte Dame war friedlich eingeschlafen, ganz ohne Kampf. Ulrike hatte ihre Hand gehalten. Aber danach – in der Stille dieses Moments, war etwas in ihr zerbrochen.
Nicht weil jemand gestorben war. Sondern weil sie gespürt hatte, dass niemand gekommen war, niemand sich verabschiedet hatte.
Und sie selbst war leer gewesen. Kein Trost. Kein Glaube.
Seitdem hatte sie sich nicht mehr um Menschen gekümmert.
Nur noch funktioniert.
Bis Bolle kam.
Sie zog das Kasack aus dem Schrank. Hielt es an sich. Dann legte sie es in eine Tüte.
Am Abend lief sie mit Bolle zum Container hinter dem Supermarkt.
Dort stand ein Spendenbehälter für Altkleider.
Sie öffnete den Schlitz.
Zögerte.
Dann ließ sie das Kasack los.
Es rutschte hinein und war fort.
Nicht, weil sie ihre Vergangenheit wegwerfen wollte.
Sondern weil sie bereit war, ihr nicht mehr darin zu wohnen.
Am Samstag bekam sie Post.
Ein Brief mit dem Logo des Seniorenheims, in dem sie gearbeitet hatte.
Zittrig öffnete sie ihn.
Sehr geehrte Frau Hansen,
unsere Einrichtungsleitung hat von Ihrer Kontaktaufnahme mit dem Tierheim gehört.
Da wir zurzeit ein kleines Projekt mit Tierbesuchsdiensten ins Leben rufen möchten, wollten wir fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, mit Ihrem Hund Bolle unsere Bewohner zu besuchen.
Es wäre keine Verpflichtung – einfach ein kleines Wiedersehen.
Mit freundlichen Grüßen
Leitung Station C2
Ulrike setzte sich.
Der Brief flatterte in ihrer Hand.
Bolle hob den Kopf.
Sie legte den Brief auf den Tisch. Stand auf. Ging im Zimmer auf und ab.
Was sollte sie antworten?
Zurückgehen an den Ort, wo alles zerbrochen war?
Oder…
Vielleicht war genau das der Ort, an dem etwas wieder zusammengesetzt werden konnte?
Eine Woche später betraten sie gemeinsam die Station.
Bolle lief an der Leine, langsam, fast würdevoll.
Ein paar der alten Kolleginnen erkannten sie. Kurzes Nicken. Keine langen Gespräche. Nur Augen, die mehr wussten als der Mund je sagen könnte.
Im Aufenthaltsraum saßen sechs Bewohner.
Zwei schauten aus dem Fenster, einer schlief im Stuhl.
Eine alte Frau mit zerzaustem Haar sah Bolle und lächelte.
„Na, du bist aber hübsch.“
Bolle trat näher. Ganz vorsichtig.
Er leckte über ihre Hand.
Die Frau lachte leise.
„So einen wie dich hatte ich auch mal. Rudi hieß der.“
Ulrike stand einen Schritt daneben.
Sie sagte nichts. Musste auch nichts sagen.
Denn Bolle sprach mit seiner bloßen Gegenwart.
Sie kamen nun jeden Mittwoch.
Immer zur selben Zeit.
Die Bewohner warteten schon. Manche mit Leckerlis, manche mit Geschichten.
Bolle wurde bekannt, wurde erwartet.
Er bellte nie. Aber er war da.
Und manchmal wenn jemand weinte oder schwieg, legte er sich einfach dazu.
Ulrike beobachtete ihn. Und sich selbst.
Etwas wuchs in ihr, langsam.
Kein Stolz. Keine Euphorie.
Etwas stilleres.
Vertrauen.
Eines Tages traf sie im Flur Schwester Gisela.
Alt gewordene Augen. Dieselbe Stimme.
„Ich hätte nie gedacht, dich hier wiederzusehen.“
Ulrike lächelte schwach.
„Ich auch nicht.“
„Er tut dir gut. Man sieht’s.“
„Er hat mich gerettet. Vielleicht ohne es zu wissen.“
Schwester Gisela nickte.
„Manche Hunde sehen mehr als Menschen je könnten.“
Zuhause hängte Ulrike eine neue Lampe im Flur auf.
Sie war klein, aus Glas, mit einem warmen Licht.
Nicht hell.
Aber genug, um das Dunkel zu vertreiben.
Bolle lag auf seiner Decke und beobachtete sie.
Sie blickte zurück.
„Ich glaube, wir sind angekommen.“
Er streckte sich aus.
Ein leises Schnauben.
Sie setzte sich neben ihn.
Legte ihre Hand auf sein Narbenfell.
Und spürte keinen Ekel. Keine Scheu. Keine Angst.
Nur Dankbarkeit.
Für das, was geblieben war.
Für das, was neu begonnen hatte.
Das Licht im Flur war schwach, aber es reichte, um heimzufinden.