Ein Fell für die Seele | Sie wollte niemanden mehr an sich heranlassen bis ein Hund ihr Leben veränderte

🐾 Teil 6: Der Brief auf dem Tisch


Es war ein Montagmorgen im Januar, als der Brief kam.

Kein offizieller Umschlag, keine Fensterfolie, nur ein handschriftlicher Name: Ulrike Hansen.

Sie fand ihn auf dem Küchentisch, als sie vom Spaziergang mit Bolle zurückkam. Wahrscheinlich hatte ihn ein Nachbar eingeworfen.

Sie riss ihn nicht sofort auf. Erst kochte sie Tee, füllte Bolles Napf, zündete die kleine Lampe im Flur an.

Dann setzte sie sich.

Der Umschlag roch nach Zigarettenrauch.

Sie zog das Papier heraus. Ein einzelnes Blatt.

Die Handschrift war groß, zittrig.

Liebe Frau Hansen,

Sie kennen mich nicht, aber ich habe von Ihnen gehört. Mein Name ist Marie P., ich bin die Tochter von Gregor.

Ich bin nie besonders gut mit meinem Vater zurechtgekommen, das gebe ich zu. Als ich erfuhr, dass er gestorben ist und sein Hund verschwunden war, dachte ich: passt zu ihm, wieder alles unordentlich.

Aber jetzt habe ich erfahren, dass Sie Bolle, also Nero, bei sich aufgenommen haben. Und dass es ihm gut geht.

Dafür danke ich Ihnen.

Ich weiß nicht genau, warum ich schreibe. Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, etwas versäumt zu haben. Vielleicht, weil mein Vater, mit all seinen Fehlern, diesen Hund geliebt hat. Und jetzt lebt wenigstens etwas von ihm weiter.

Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Bolle gern einmal sehen. Nur wenn es für Sie beide in Ordnung ist.

Mit freundlichen Grüßen
Marie P.

Ulrike lehnte sich zurück.

Ihr Blick fiel auf Bolle, der im Flur lag und schlief.

Ein feines Schnarchen, gleichmäßig.

Sie legte den Brief auf den Tisch.

Lange schaute sie ihn an.

Nicht wegen des Inhalts.

Sondern wegen des Tons.

Da schrieb jemand nicht mit Anspruch. Nicht aus Pflichtgefühl.

Sondern mit Sehnsucht.


Am nächsten Tag schrieb sie zurück.

Mit Kugelschreiber, auf einfachem Papier.

Sehr geehrte Frau P.,

danke für Ihre ehrlichen Worte. Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Ihrem Vater stand, und es geht mich auch nichts an.

Was ich sagen kann: Bolle lebt. Er schläft viel, frisst mit Appetit, geht gern spazieren.

Wenn Sie ihn sehen möchten, lade ich Sie gern ein.

Ich bin meistens nachmittags zu Hause.

Mit freundlichen Grüßen
Ulrike Hansen

Sie steckte den Umschlag in den Briefkasten an der Ecke.

Dann ging sie mit Bolle raus.

Er trottete neben ihr her wie immer.

Aber irgendetwas lag in der Luft.

Nicht Sturm. Nicht Regen.

Erwartung.


Drei Tage später klingelte es.

Ein Freitag. Früher Nachmittag.

Ulrike hatte gerade den Teppich gesaugt, Bolle lag auf seiner Decke.

Sie öffnete die Tür.

Marie P. stand da.

Etwa Mitte vierzig, schmal, dunkle Jacke, umklammerte ihre Tasche mit beiden Händen. Ihre Augen wanderten unruhig, bis sie Bolle sah.

Dann wurden sie weit.

„Das ist er…“

Bolle stand auf. Sah sie lange an.

Kein Bellen. Kein Knurren.

Dann trat er einen Schritt vor.

Marie ließ die Tasche los, hockte sich hin.

„Nero…“, flüsterte sie.

Er schnupperte an ihrer Hand.

Dann leckte er kurz darüber.

Nicht überschwänglich. Nicht scheu.

Ein Gruß aus einer anderen Zeit.


Drinnen tranken sie Tee.

Marie sah sich vorsichtig um. Die Möbel, die Pflanzen, die Lampe im Flur.

„Es ist still hier“, sagte sie leise.

„Ich mag Stille“, antwortete Ulrike.

„Ich nicht. Früher zumindest nicht. Vielleicht hab ich deshalb alles übertönt mit Musik, mit Streit, mit Weggehen.“

Ulrike sagte nichts.

Marie trank einen Schluck Tee.

„Mein Vater… war schwierig. Er konnte liebevoll sein, aber auch plötzlich verschwinden. Ich hab nie ganz verstanden, wer er wirklich war.“

Bolle legte seinen Kopf auf Maries Knie.

Sie streichelte ihn.

„Aber dieser Hund… der war immer da. Wenn er mit ihm sprach, klang er wie ein anderer Mensch. Sanft. Ohne Bitterkeit.“

Ulrike nickte.

„Ich glaube, er hat viel getragen.“


Sie redeten nicht viel. Aber genug.

Marie blieb fast zwei Stunden. Dann stand sie auf.

„Danke, dass Sie mir das erlaubt haben.“

Ulrike ging mit ihr zur Tür.

Marie zögerte, bevor sie hinausging.

„Wenn Sie mal jemanden zum Reden brauchen… ich meine… ich wohne in Glauchau. Ist nicht weit.“

Ulrike lächelte.

„Danke. Ich denk dran.“

Marie beugte sich noch einmal zu Bolle.

„Pass auf sie auf, ja?“

Bolle blinzelte nur.

Dann war sie weg.


Am Abend war es windstill.

Ulrike saß am Fenster.

Ein Licht leuchtete draußen auf dem Gang.

Bolle schnarchte leise.

Sie sah ihn lange an.

Dann flüsterte sie:

„Vielleicht heilt man nicht, indem man vergisst. Sondern indem man jemanden nicht mehr allein lässt.“

Sie stand auf, holte einen alten Fotoapparat aus der Schublade.

Am nächsten Morgen nahm sie das erste Bild von Bolle auf seiner Decke.

Sie würde es Marie schicken.

Und vielleicht… irgendwann noch jemandem.

Manche Briefe bleiben im Herzen, auch wenn sie längst nicht mehr auf dem Tisch liegen.

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