Ein Fell für die Seele | Sie wollte niemanden mehr an sich heranlassen bis ein Hund ihr Leben veränderte

🐾 Teil 7: Wenn der Schnee schmilzt


Der Februar brachte Tauwetter.

Langsam, fast schüchtern, schmolz der Schnee auf den Dächern. Die Wege waren noch matschig, aber der Wind roch schon anders, nach Erde, nicht mehr nach Eis.

Ulrike ging wieder täglich raus. Nicht aus Pflicht. Sondern weil sie es wollte.

Der Bahndamm war nass, aber begehbar. Die Vögel wurden lauter.

Bolle lief mit erhobenem Kopf. Die Narben an seinem Rücken blieben, doch das Fell hatte begonnen, stellenweise nachzuwachsen.

Keine Heilung über Nacht. Aber ein Anfang.

Wie bei ihr.


Am dritten Sonntag im Monat begegneten sie der Frau mit dem Dackel wieder.

„Na, lebt der Schöne noch?“, fragte sie mit einem Lächeln.

Ulrike nickte.

„Er lebt mehr, als ich gedacht hätte.“

Die Frau musterte sie kurz. Dann sagte sie: „Und Sie auch.“

Es war kein Kompliment. Kein Trost.

Nur eine Feststellung.

Und gerade deshalb traf es Ulrike.

Sie lächelte zum ersten Mal in diesem Winter ohne Anstrengung.


Zu Hause reinigte sie das Fensterbrett. Die alten, vertrockneten Pflanzen kamen in den Müll.

Sie kaufte neue. Zwei Töpfe mit Hyazinthen.

Der Duft war stark, beinahe süßlich.

Aber er erinnerte sie an ihre Kindheit.

An die Fensterbank der Mutter, die nie viel sagte, aber immer frische Blumen hatte.

Bolle schnupperte an den Töpfen, nieste und trottete zurück auf seine Decke.

Sie lachte leise.


Mitte März kam ein Anruf.

„Frau Hansen? Hier spricht Pfarrer Riedel von der Kirchengemeinde St. Jakobus. Ihre Nummer wurde uns vom Seniorenheim gegeben.“

Ulrike runzelte die Stirn.

„Worum geht es?“

„Wir veranstalten nächsten Monat einen Nachmittag über ‚Heilung durch Nähe‘. Keine Predigt, keine Therapie – nur ein Raum für Menschen, die etwas erlebt haben und teilen möchten. Ihre Geschichte mit Bolle wurde uns zugetragen. Würden Sie kommen? Vielleicht etwas erzählen? Oder einfach da sein?“

Ulrike schwieg einen Moment.

Dann sagte sie: „Ich denke darüber nach.“


Sie dachte lange darüber nach.

Erzählte man so etwas Fremden? Zeigte man seine Risse? Oder waren genau das die Stellen, durch die das Licht fiel?

Sie nahm sich keinen festen Entschluss vor.

Aber sie schrieb sich das Datum auf.


An einem der letzten Märztage fanden sie auf dem Spaziergang ein Reh.

Es lag am Waldrand, noch warm, aber tot. Keine Wunden, kein Blut.

Bolle blieb stehen, setzte sich.

Er bellte nicht. Tat nichts.

Nur dasitzen.

Ulrike trat neben ihn.

„Das ist das Leben“, sagte sie leise.

„Es hört nicht auf, es wechselt nur die Richtung.“

Sie gingen weiter.

Und zum ersten Mal fühlte sie sich nicht von der Dunkelheit bedroht.

Sondern von ihr getragen.


Am 12. April nahm sie den Bus zur Kirche.

Bolle durfte mit, lag am Rand des Gemeindesaals.

Etwa 20 Menschen waren da. Junge, Alte.

Jemand sprach über seine Frau, die nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen konnte.

Eine Frau erzählte von ihrem Sohn, der sich das Leben genommen hatte.

Niemand beurteilte.

Niemand korrigierte.

Es war Raum für Stille.

Als Ulrike an der Reihe war, zitterten ihre Hände.

Sie stand auf.

„Ich war Pflegerin“, begann sie.

„Dann wurde ich jemand, der nicht mehr wusste, wie man lebt. Und dann kam Bolle.“

Sie sprach nicht viel.

Nur die Wahrheit.

Als sie endete, sagte eine alte Dame: „Sie haben mir Mut gemacht. Auch wenn Sie es nicht wollten.“

Ulrike setzte sich.

Bolle legte den Kopf auf ihre Füße.

Und alles war gut.


Am Abend regnete es leise.

Sie öffnete das Fenster.

Bolle trat neben sie.

Sie sah hinaus.

Die Straße glänzte.

Menschen liefen unter Schirmen vorbei.

Ganz normale Leben.

Und sie war wieder Teil davon.

Vielleicht nicht wie früher.

Aber als jemand, der atmete.

Der hörte.

Der fühlte.


Im Wohnzimmer lag noch ein alter Karton.

Sie öffnete ihn.

Darin: Fotos, Briefe, ein Kassettenrekorder.

Und ein altes Diktiergerät.

Sie drückte auf „Play“.

Die Stimme war ihre eigene, zehn Jahre jünger.

„An Frau Mettner. Medikamentenplan abends geändert. Gespräch mit der Tochter wegen Besuchszeiten.“

Sie drückte auf „Stopp“.

Dann nahm sie das Gerät, stellte es auf den Tisch.

Und sagte:

„Mein Name ist Ulrike Hansen. Ich war lange still. Aber ich bin noch da.“

Wenn der Schnee schmilzt, erkennt man, was darunter gewartet hat.

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