Ein Fell für die Seele | Sie wollte niemanden mehr an sich heranlassen bis ein Hund ihr Leben veränderte

🐾 Teil 8: Was bleibt


Die Tage wurden länger.

Morgens lag Licht auf dem Parkett. Keine Neonröhren, keine künstliche Wärme, echtes, zaghaftes Frühjahrslicht.

Ulrike stand früh auf, nicht mehr aus Gewohnheit, sondern weil der Tag etwas bereithielt.

Sie hatte begonnen, ihre Wohnung zu verändern.

Nicht viel. Kein großer Umbau.

Aber die Wände wurden heller. Sie kaufte Vorhänge in einem weichen Grün, das an die Wiese hinter dem Bahndamm erinnerte.

Und sie hängte ein Bild auf.

Nicht von früher. Nicht aus besseren Zeiten.

Es war das Foto, das sie selbst geschossen hatte: Bolle, auf seiner Decke, der Blick zur Tür, als warte er auf etwas.

Darunter schrieb sie: „Da sein reicht.“


Sie ging noch immer mittwochs ins Heim.

Bolle kannte den Weg. Sobald sie die Leine vom Haken nahm, wedelte er leicht mit dem Schwanz.

Er bellte nie. Das hatte er nie getan. Aber seine Augen redeten.

An diesem Mittwoch war Frau Mette zum ersten Mal wieder da.

Sie war im Dezember gestürzt, hatte sich die Hüfte gebrochen. Nun saß sie im Rollstuhl, dünner, bleicher.

Als sie Bolle sah, lächelte sie.

„Na, mein Freund. Erinnerst du dich an mich?“

Bolle trat vorsichtig vor. Legte seine Schnauze in ihren Schoß.

Frau Mette streichelte über sein Fell, berührte eine der kahlen Stellen.

„Manche Narben sieht man. Manche nicht“, sagte sie leise.

Ulrike schluckte.

Diese Frau war fast blind. Und doch sah sie so viel.


Auf dem Heimweg sprachen sie nicht.

Sie gingen einfach nebeneinander.

Am alten Bahnhof blühte der Flieder.

Ulrike blieb stehen.

Der Duft traf sie wie eine Erinnerung.

An ihre Großmutter. An Kindheitssommer. An Schürzen mit Blumendruck und Hände, die nach Seife rochen.

Bolle schnupperte ebenfalls. Niesend.

Sie lächelte.


Am Abend rief Marie an.

„Ich wollte nur hören, wie es euch geht.“

„Gut“, sagte Ulrike.

„Ich hab ein bisschen Angst, dass ich zu viel will“, sagte Marie.

„Warum?“

„Weil ich nicht weiß, wie man mit Vergangenem umgeht. Ich hab so viel versäumt bei meinem Vater…“

„Du holst gerade nach“, sagte Ulrike.

„Bolle ist der letzte Teil von ihm, den ich noch erreichen kann.“

„Und er lässt es zu.“

„Ja. Aber ich hab Angst, dass ich wieder verschwinde.“

Ulrike schwieg einen Moment.

Dann sagte sie:

„Man kann nur bleiben, wenn man will. Und wenn man ehrlich ist.“

Marie atmete hörbar.

„Ich will bleiben.“

„Dann fang an.“


Im April kam ein Brief vom Tierheim.

„Liebe Frau Hansen, wir möchten Sie fragen, ob Sie offen wären, bei unserem Frühlingsfest im Mai ein paar Worte über Bolle zu sagen.

Viele Besucher interessieren sich für ältere Hunde, aber sie zweifeln. Ihre Geschichte macht Mut.“

Ulrike zögerte.

Nicht aus Angst.

Sondern aus Respekt.

Respekt vor der Geschichte, die nicht nur ihr gehörte.

Sie legte den Brief Bolle auf den Rücken.

Er rührte sich nicht.

Dann stand er langsam auf.

Der Zettel fiel zu Boden.

Und er trat nicht darauf.

Sie nahm das als Zeichen.


Am 7. Mai stand sie vor einem kleinen Mikrofon.

Der Himmel war blau. Kinder liefen zwischen Ständen umher. Es roch nach Grillwurst und Heu.

Ulrike trug ihre alte braune Strickjacke.

Sie hatte keine Rede vorbereitet.

Nur ein paar Gedanken.

„Ich dachte lange, ein Hund ist ein Tier. Man füttert ihn, geht mit ihm raus, passt auf ihn auf.

Aber ich habe gelernt, dass manche Tiere Menschen retten, ohne dass es jemand merkt.

Bolle war kein Geschenk. Er war eine Prüfung.

Aber auch eine Antwort.

Eine Antwort auf Fragen, die ich mir nie laut gestellt hatte.

Heute weiß ich: Es gibt Wesen, die einfach bleiben. Auch wenn du hässlich bist. Müde. Leer.

Und das ist vielleicht mehr, als viele Menschen je erfahren.“

Sie beendete ihre Worte, als jemand zu klatschen begann.

Bolle saß daneben, den Blick ruhig.


Nach dem Fest gingen sie zum Fluss.

Es war warm, der Wind trug den Duft von Blüten mit sich.

Ulrike zog die Schuhe aus, stellte sich mit den Füßen ins Wasser.

Bolle lief am Rand entlang, schnupperte, blieb stehen.

Dann legte er sich in die Sonne.

Sie setzte sich neben ihn.

„Weißt du, ich dachte lange, ich sei nur noch Rest. Keine Aufgabe, kein Ziel. Aber du… du hast mir gezeigt, dass Dasein reicht.“

Er blinzelte.

Dann leckte er über ihre Hand.


Am Abend schrieb sie in ihr altes Notizbuch.

Sie hatte es seit Jahren nicht benutzt.

Früher waren darin Medikamentenlisten, Dienstpläne, Einkaufszettel.

Jetzt schrieb sie nur einen Satz:

„Was bleibt, ist nicht das, was wir geleistet haben. Sondern wen wir berührt haben.“

Manche Geschichten schreiben sich nicht mit Tinte, sondern mit Pfoten auf dem Herzen.

Scroll to Top