🐾 Teil 10: Ein Fell für die Seele
Der Frühling war da.
Nicht plötzlich, sondern in Schritten.
Die Bäume trugen junge Blätter. Der Wind roch nach Erde und Versprechen.
Ulrike ging wieder allein spazieren. Nicht aus Trotz. Sondern weil die Welt noch da war – und sie auch.
Am Bahndamm, wo früher Bolle lief, wuchsen wilde Veilchen. Sie pflückte keine. Sie ließ sie stehen.
Denn nicht alles, was man liebt, muss man festhalten.
Im Seniorenheim hatte man gefragt, ob sie trotzdem weitermachen wolle.
„Die Leute fragen nach Ihnen. Und nach Bolle.“
Ulrike hatte gezögert.
Dann sagte sie: „Ich komme. Aber ich bringe jemand Neues mit.“
Drei Wochen später ging sie wieder durch die Gänge von Station C2.
Neben ihr lief kein Hund. Aber sie trug eine kleine Mappe.
Darin: Bilder von Bolle.
Sie zeigte sie den Bewohnern.
„Das war mein Begleiter“, sagte sie.
„Er hat nichts gesagt. Aber er war immer da.“
Manche hörten ihr still zu. Manche weinten.
Und eine Frau sagte: „Dann war er ein besserer Mensch als viele, die ich kannte.“
Ulrike nickte.
Und spürte, dass Erinnerung nicht weh tun muss – wenn man sie mit anderen teilt.
Marie rief nun regelmäßig an.
Manchmal kamen nur zwei, drei Sätze.
Aber sie kamen.
„Ich hab Fotos von Papa gefunden“, sagte sie einmal.
„Eins zeigt ihn mit Nero auf dem Sofa. Ich glaub, das war der einzige Moment, wo er ehrlich gelächelt hat.“
Ulrike sagte: „Dann hat er was Gutes hinterlassen.“
Marie schwieg.
Dann sagte sie: „Ja. Dich.“
An einem Sonntag fuhr Ulrike zum Tierheim.
Nicht um zu holen.
Nur um zu sehen.
Sie ging durch die Gänge. Sah die Gesichter hinter den Gittern. Die leisen Bewegungen. Die wachen Augen.
Keiner war wie Bolle.
Aber das musste auch nicht sein.
Am letzten Zwinger blieb sie stehen.
Ein junger Hund. Zottelig. Ein Ohr schief, die Pfoten zu groß.
Er bellte nicht.
Er sah sie einfach an.
Ein Blick, der nicht fragte: Nimmst du mich?
Sondern: Bist du bereit?
Ulrike ging weiter.
Aber der Blick blieb in ihr.
Zuhause holte sie das Notizbuch hervor.
Sie schlug eine leere Seite auf.
Schrieb in ruhiger Schrift:
„Heilung ist kein Ziel. Es ist ein Weg. Und manchmal hat dieser Weg vier Pfoten.“
Dann stand sie auf.
Öffnete die Fenster.
Die Luft war mild.
Und irgendwo in der Ferne bellte ein Hund.
Am Abend setzte sie sich auf den Boden.
Der Platz neben ihr war leer.
Aber nicht kalt.
Sie schloss die Augen.
Und spürte ihn.
Nicht als Schmerz. Nicht als Verlust.
Sondern als etwas, das sie getragen hatte.
Wie ein Fell für die Seele.
Manchmal kommt das, was uns rettet, auf leisen Pfoten und bleibt für immer, auch wenn es geht.