Ein gestohlener Dienstag: Wie eine Mutter sich Zeit, Wahrheit und Nähe zurückholt

Ich habe meinen Mann heute belogen. Nicht für eine Affäre, sondern um mir das Recht auf meinen eigenen Verstand zurückzustehlen.

Der E-Mail-Betreff leuchtete auf meinem Handybildschirm auf, kalt und sachlich: Genehmigung Gleitzeitabbau. Mein Herz machte einen Satz, der in meiner Brust widerhallte wie ein Paukenschlag in einer leeren Kirche. Ein ganzer Tag. Frei. Morgen.

Normalerweise wäre dies der Moment gewesen, in dem ich durch das Wohnzimmer rufe: „Justinus! Schatz! Ich habe morgen frei! Wir können den Keller aufräumen oder die Steuererklärung machen!“ Oder vielleicht hätte ich meine Schwiegermutter eingeladen.

Aber in diesem Moment, als ich meinen Mann Justinus auf dem Sofa sah, wie er mit offenem Mund schlief, das Spielzeug unserer Kinder um ihn herum verstreut wie Trümmer nach einem Bombenangriff, fühlte ich eine verbotene Emotion.

Ich löschte die Benachrichtigung vom Sperrbildschirm. Ich sagte nichts.

Am nächsten Morgen war der Himmel über unserer kleinen Stadt grau und schwer, typisch für den deutschen Herbst. Der Nebel hing tief über den Schieferdächern der Altstadt. Um 6:45 Uhr stand ich fertig angezogen im Flur. Bluse gebügelt, Business-Schuhe geputzt.

„Gehst du schon, Liebling?“ Justinus’ Stimme war rau vom Schlaf. Er blinzelte mich aus dem Schlafzimmer an, die Haare zerzaust. „Ja“, log ich. Meine Stimme zitterte nicht einmal. Das erschreckte mich am meisten. „Ich muss früher los. Großes Meeting mit der Abteilung aus München. Warte nicht mit dem Abendessen.“

Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn – den Kuss einer pflichtbewussten Ehefrau – und schlich mich aus dem Haus wie eine Kriminelle. Als ich im Auto saß und den Motor startete, schaute ich nervös in den Rückspiegel, als würde mich die „Sittenpolizei für Ehefrauen und Mütter“ verfolgen.

Ich fuhr nicht zur Autobahn. Stattdessen lenkte ich den Wagen in die entgegengesetzte Richtung, durch die engen, gepflasterten Gassen, vorbei an der alten Kirche, bis hin zum Randbezirk, wo die Zeit langsamer zu laufen schien.

Ich hielt vor einer kleinen Bäckerei, die es schon gab, als ich noch zur Grundschule ging. Ich kaufte zwei Mohnschnecken und fuhr zu meinem geheimen Ziel: Mamas Haus.

Als meine Mutter die Tür öffnete, trug sie noch ihren Morgenmantel. Der Geruch von altem Holz und Lavendel strömte mir entgegen.

„Miriam?“, fragte sie verwirrt. Ihre Hand ging instinktiv zu ihren unfrisierten Haaren. „Ist etwas mit den Kindern? Ist etwas mit Justinus?“

„Nein, Mama“, flüsterte ich und schob mich an ihr vorbei in den Flur. „Ich habe geschwänzt. Niemand weiß, dass ich hier bin.“

Ein Lächeln breitete sich langsam auf ihrem Gesicht aus, ein Komplizen-Lächeln, das sie Jahre jünger machte. „Du bist unmöglich“, kicherte sie, während sie die Tür verriegelte.

Wir verbrachten den Vormittag wie in einem Paralleluniversum. Es gab keine Wellness-Behandlung, keinen Champagner. Wir saßen einfach in ihrer kleinen Küche mit den gehäkelten Tischdecken. Mama kochte Filterkaffee – diesen altmodischen, der so stark ist, dass er Tote aufwecken könnte – und wir aßen die Mohnschnecken direkt aus der Papiertüte.

„Wie geht es Justinus?“, fragte sie.

„Gut. Er ist… müde. Wir sind alle müde“, seufzte ich und ließ mich tief in den Küchenstuhl sinken. Es war die Stille, die mich überwältigte. In meinem Haus gab es keine Stille. Es gab „Paw Patrol“ aus dem Fernseher, das Summen der Waschmaschine, Justinus’ Telefonkonferenzen, das Streiten der Kinder.

Hier hörte man nur das Ticken der Wanduhr und das gelegentliche Vorbeifahren eines Autos auf dem Kopfsteinpflaster.

Ich beobachtete Mama, während sie mir nachschenkte. Ihre Hände zitterten leicht. Die Wohnung war makellos sauber, aber sie wirkte zu groß für eine einzelne Person.

„Ist es nicht einsam hier?“, fragte ich unvermittelt.

Sie hielt inne. „Man gewöhnt sich an alles, Miri. Die Stille ist mein Mitbewohner geworden. Aber heute…“, sie lächelte und legte ihre warme Hand auf meine, „…heute ist das Haus lebendig.“

Um 14:00 Uhr klingelte mein Handy. Das Display zeigte: Justinus. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich sah Mama an. Sie presste die Lippen zusammen, um nicht laut loszulachen, und legte den Finger auf den Mund.

„Hey Schatz“, meldete ich mich mit meiner besten „Büro-Stimme“. „Hey, ich wollte nur wissen, wie das Meeting lief? Ich kämpfe hier gerade mit der Spülmaschine, sie macht komische Geräusche.“

„Das Meeting… läuft noch“, log ich olympiareif. „Es ist sehr intensiv. Ich kann jetzt nicht reden. Kümmere dich um die Maschine, ja? Ich liebe dich.“

Ich legte auf. Mama und ich brachen in ein befreiendes Gelächter aus, das uns Tränen in die Augen trieb. Es fühlte sich an, als wären wir wieder Teenager, die die Schule schwänzten, um im Park Zigaretten zu rauchen – nur dass wir jetzt erwachsene Frauen waren, die sich vor der Verantwortung versteckten.

Doch als das Lachen verebbte, sah ich die Dankbarkeit in ihren Augen. In unserer leistungsorientierten Gesellschaft, hier in Deutschland, wo wir Terminkalender führen wie Generäle ihre Schlachtpläne, hatte ich vergessen, wie wichtig Zeit ist. Zeit ohne Zweck. Zeit ohne Ziel.

Ich verließ sie um kurz nach 16:00 Uhr, um pünktlich zum Feierabendverkehr wieder zu Hause zu sein. „Kommst du bald wieder?“, fragte sie an der Tür, kleiner wirkend als früher. „Bald“, versprach ich. Und ich meinte es ernst.

Als ich zu Hause ankam, war ich nicht erschöpft wie sonst nach acht Stunden Büroarbeit. Ich fühlte mich seltsam erfrischt. Das Chaos im Flur – Schuhe, Schulranzen, eine umgekippte Wasserflasche – störte mich nicht.

Justinus kam mir entgegen, das Haar zerzaust, ein Fleck Tomatensoße auf dem Hemd. Er sah fertig aus.

„Wie war dein Tag?“, fragte er.

„Produktiv“, sagte ich, und dieses Mal war es keine Lüge. Ich umarmte ihn fest, viel fester als am Morgen. Ich hatte Energie übrig. Ich hatte Geduld getankt.

An diesem Abend, als die Kinder endlich schliefen und Justinus neben mir auf dem Sofa döste, vibrierte mein Handy. Eine Nachricht von Mama.

„Danke, mein Schatz. Danke, dass ich heute nicht nur die Oma sein musste, die man sonntags zum Kaffee besucht. Danke, dass ich heute wieder einfach nur Mama sein durfte. Und danke für das schönste ‚Verbrechen‘, das wir je begangen haben.“

Ich spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief. Ich sah Justinus an. Ich bin keine schlechte Ehefrau, weil ich diesen Tag für mich brauchte. Vielleicht bin ich genau deshalb eine bessere.

Ich antwortete: „Nächsten Dienstag? Gleiche Zeit, gleicher Ort?“

Es ist unser kleines Geheimnis. In einer Welt, die uns ständig alles abverlangt, ist dieser Dienstag meine Rettungsinsel. Und Mamas auch.

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