Am nächsten Dienstag wachte ich auf, als wäre ich eine Betrügerin mit Wecker. Nicht, weil ich wieder frei hatte – diesmal hatte ich ganz normal gearbeitet –, sondern weil ich wusste, dass ich mir trotzdem stehlen würde, was mir fehlte: eine Stunde, die niemand von mir forderte, die nicht „Mama“ oder „Ehefrau“ oder „Teamleitung“ hieß, sondern einfach nur „ich“.
Justinus stand am Herd und rührte mechanisch in einer Schüssel, die Kinder klebten wie Satelliten an ihm, hungrig und laut.
Er sah mich an, und in seinen Augen lag dieses matte Leuchten von Menschen, die funktionieren, weil sie keine Wahl sehen. Ich küsste ihn, länger als sonst, als könnte ich damit etwas ausgleichen, das ich noch nicht einmal ausgesprochen hatte.
„Heute wird spät“, sagte ich und hörte mir selbst zu, wie ich den Satz so beiläufig machte wie einen Wetterbericht. „Abteilungstermin. Viel Abstimmung.“
„Schon wieder?“ Seine Stimme war nicht vorwurfsvoll, eher müde. Er strich unserem Sohn über den Kopf, ohne hinzusehen. „Okay. Dann… bringst du wenigstens Brot mit?“
„Ja“, sagte ich. Und mein Bauch zog sich zusammen, weil ich wusste, dass ich genau das tun würde, aber nicht auf dem Heimweg vom Büro.
Ich fuhr nach der Arbeit nicht Richtung Supermarkt, sondern wie beim letzten Mal durch die kleinen, gepflasterten Straßen, die sich anfühlten, als hätten sie ein anderes Tempo als der Rest der Welt.
Der Herbst hatte inzwischen die Bäume endgültig entkleidet, und der Wind schob die Blätter in nassen, braunen Haufen über den Bordstein. Alles roch nach feuchtem Stein und Kaminrauch, nach Abschied und Anfang zugleich.
Die Bäckerei stand da wie ein alter Freund, der nichts fragt. Ich kaufte Brot, zwei Schrippen für die Kinder und – für uns – zwei Mohnschnecken, als wäre das inzwischen eine Regel.
Als ich die Papiertüte auf den Beifahrersitz legte, spürte ich dieses kurze Kribbeln, dieses kindische, warme „Wir gegen den Rest“, das so absurd und so tröstlich war, dass ich fast lachen musste.
Mama öffnete die Tür schneller als beim letzten Mal, als hätte sie hinter dem Spion gewartet. Ihre Haare waren geschniegelt, der Morgenmantel war einem Pullover gewichen, sogar Lippenstift hatte sie aufgetragen, ganz leicht, als würde sie nicht nur Besuch bekommen, sondern einen Termin mit dem Leben.
„Da bist du“, sagte sie, und in ihrer Stimme lag etwas, das mich unerwartet traf: Vorfreude, ja. Aber auch Erleichterung, als hätte sie die Woche über gezählt.
„Ich habe nur eine Stunde“, log ich sofort, automatisch, aus alter Gewohnheit heraus, mich selbst zu rechtfertigen. „Ich muss nachher noch—“
„Miri“, unterbrach sie mich sanft und nahm mir die Tüte aus der Hand, als wäre sie das Wertvollste der Welt. „Komm rein. Eine Stunde ist eine Ewigkeit, wenn man lange genug alleine war.“
In der Küche war alles wie beim letzten Mal, und doch nicht. Die gehäkelte Tischdecke lag gerade, die Tassen standen bereit, und auf dem Fensterbrett standen zwei kleine Kerzen, die sie angezündet hatte, obwohl es noch hell war.
Ich setzte mich, und mein Körper verstand sofort: Hier musst du nicht leisten, nur atmen.
„Wie geht’s dir wirklich?“, fragte sie, während sie den Filterkaffee aufsetzte. Ihre Hände zitterten noch immer, aber sie bewegte sich konzentriert, als würde sie sich die Würde antrainieren.
Ich wollte „gut“ sagen, dieses reflexhafte Wort, das man in Deutschland so oft benutzt, bis es hohl klingt. Stattdessen atmete ich aus.
„Ich bin müde“, sagte ich leise. „Nicht ‚schlafen-müde‘. Eher… ich-bin-ständig-jemand-für-alle-müde.“
Mama stellte die Kaffeekanne ab, und ihr Blick wurde weich. „Ich kenne das“, sagte sie. „Nur dass ich früher dachte, es hört auf, wenn die Kinder groß sind.“
„Und?“ Ich schob die Mohnschnecke aus der Tüte, der Duft von Mohn und Zucker stieg auf wie eine Erinnerung.
Sie lachte kurz, ohne Humor. „Es hört nicht auf. Es ändert nur den Namen. Erst bist du Mutter, dann bist du Oma, dann bist du die, um die man sich Sorgen macht, ohne zu fragen, ob sie das überhaupt will.“
Wir aßen, und für ein paar Minuten sagten wir nichts. Es war diese besondere Stille, die nicht peinlich ist, sondern wie eine Decke, die man sich um die Schultern legt. Draußen fuhr ein Auto vorbei, die Reifen schmatzten auf dem nassen Pflaster, irgendwo klapperte ein Rollladen im Wind.
Dann stand Mama plötzlich auf und ging zum Flurschrank, als hätte sie etwas vergessen. Sie kam zurück mit einem weißen Umschlag, ungeöffnet, und legte ihn zwischen uns auf den Tisch, als wäre es eine Bombe.
„Was ist das?“, fragte ich, und mein Magen zog sich wieder zusammen, diesmal nicht wegen einer Lüge, sondern wegen einer Ahnung.
„Ein Brief vom Arzt“, sagte sie und starrte ihn an, als wäre es ein fremder Gegenstand. „Ich habe ihn gestern bekommen. Ich hab ihn nicht aufgemacht.“
„Warum nicht?“
Sie sah mich an, und in ihren Augen war plötzlich die Frau, die früher alles im Griff hatte, die mich als Kind beruhigt hatte, wenn ich Fieber hatte und Angst vor der Nacht. Jetzt war sie die, die Angst hatte.
„Weil ich nicht alleine lesen wollte, dass ich alt bin“, flüsterte sie.
Meine Hand griff nach ihrer, automatisch. „Dann lesen wir ihn zusammen“, sagte ich, und ich merkte, wie sehr ich das meinte. Nicht, weil es dramatisch war, sondern weil es wahr war: Dafür war Zeit da. Dafür musste Zeit da sein.
Mama nickte, einmal, klein. Ich riss den Umschlag nicht auf wie in Filmen. Ich nahm mir Zeit, als wäre das schon Teil der Medizin. Als das Papier raschelte, hörte ich mein eigenes Herz in den Ohren.
Es war keine Todesnachricht, kein großes, filmreifes Urteil. Es waren nüchterne Sätze, Termine, „weitere Abklärung“, „kognitive Tests“, ein Wort, das zwischen den Zeilen stand wie ein Schatten: Vergesslichkeit. Und plötzlich bekam ihr leichtes Zittern am Morgen eine andere Farbe in meinem Kopf.
„Ich vergesse manchmal Wörter“, sagte Mama, als hätte sie sich schuldig zu bekennen. „Nicht die wichtigen. Nicht eure Namen. Aber… ich stehe im Flur und weiß nicht mehr, warum ich da bin.“
Ich schluckte. Mir fiel ein, wie makellos sauber die Wohnung war, wie ordentlich alles stand, als würde Ordnung eine Mauer gegen das Chaos im Kopf sein.
„Warum hast du nichts gesagt?“, fragte ich, und meine Stimme war rau.
Sie hob die Schultern, zuckte wie jemand, der gelernt hat, niemandem zur Last zu fallen. „Weil ihr schon genug habt. Justinus, die Kinder, deine Arbeit. Ihr seid so… voll.“
Das Wort traf mich. Voll. Ja. Wir waren voll. Vollgestopft mit To-do-Listen und Verantwortung, bis kein Platz mehr war für das, was wirklich zählt, weil es nicht schreit.
Ich hörte mein Handy vibrieren, irgendwo in meiner Tasche, wie ein Störenfried in einer Kirche. Wir sahen beide gleichzeitig zum Display. Justinus.
Mama verzog das Gesicht und machte wieder dieses Komplizen-Zeichen, Finger auf den Mund. Aber diesmal lachte sie nicht. Und ich auch nicht.
„Geh ran“, sagte sie leise. „Er ist dein Mann.“
Ich hob ab und setzte die Stimme auf, die ich inzwischen perfektioniert hatte. „Hey Schatz.“
„Du“, sagte Justinus. Seine Stimme klang angespannt. Im Hintergrund hörte ich Kinderstimmen und etwas, das nach einem Topf klang, der auf dem Herd überkochte. „Wo bist du gerade?“
„Im Büro“, sagte ich automatisch, und in dem Moment fühlte ich mich, als würde ich nicht Zeit stehlen, sondern Vertrauen.
„Komisch“, sagte er. Pause. „Weil mir gerade dein Standort im Auto angezeigt wird. Das Ding hat sich wohl wieder verbunden. Und… Miri… du bist nicht im Industriegebiet.“
Mein Blut wurde kalt. Ich sah Mama an, und sie sah zurück, als hätte sie genau vor diesem Moment Angst gehabt.
„Justinus, ich—“, begann ich.
„Bist du okay?“, fiel er mir ins Wort, und das war das Schlimmste: Nicht Wut, nicht Vorwurf. Sorge. „Sag mir einfach, dass alles okay ist.“
Ich hätte jetzt eine neue Lüge bauen können, schnell, stabil, mit zwei, drei Details. „Stau“, „Umweg“, „Kundentermin“. Ich kann das. Ich kann Lügen so gut, weil ich so gut gelernt habe, Erwartungen zu erfüllen.
Stattdessen hörte ich mich sagen: „Ich bin bei Mama.“
Es war still. Nicht die gute Küchenstille. Eine andere, digitale Stille, in der man spürt, wie ein Mensch am anderen Ende gerade sein Bild von dir neu sortiert.
„Bei deiner Mutter“, wiederholte er langsam. „Du hast gesagt, du bist im Büro.“
„Ich weiß.“ Meine Kehle tat weh. „Es tut mir leid.“
„Warum?“, fragte er. Nur dieses eine Wort. Und darin steckte alles: Warum lügst du mich an? Warum gehst du alleine? Warum sagst du nichts? Warum bin ich nicht Teil davon?
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