Ich sah auf den Brief auf dem Tisch, auf Mamas Hände, die den Rand der Tasse umklammerten, als könnte sie sich daran festhalten. Ich sah mein eigenes Leben wie eine Liste, die ich nicht mehr tragen wollte.
„Weil ich nicht wusste, wie ich es sagen soll, ohne dass es wieder zu einer Aufgabe wird“, sagte ich, und meine Stimme brach fast. „Weil ich einmal… einmal am Tag nur Miriam sein wollte. Nicht Projektleiterin. Nicht Organisatorin. Nicht die, die alles im Kopf hat.“
Am anderen Ende atmete er aus. Ich hörte, wie er sich irgendwo hinsetzte, als wäre ihm kurz die Kraft aus den Beinen gegangen.
„Und ich?“, fragte er leise. „Bin ich so ein Mensch, bei dem du denkst, du musst dich verstecken, um atmen zu dürfen?“
Diese Frage tat mehr weh als jede Wut. Weil sie fair war.
„Nein“, flüsterte ich. „Aber ich hatte Angst, dass du es nicht verstehst. Oder dass du es dir zu Herzen nimmst. Oder dass du sagst: ‚Dann mach doch einfach‘ – und ich dann merke, dass ich es nicht kann, weil ich immer das Gefühl habe, um Erlaubnis bitten zu müssen.“
„Miri“, sagte er, und jetzt klang er müde und verletzt zugleich. „Ich bin auch müde.“
Ich schloss die Augen. Hinter meinen Lidern sah ich ihn am Morgen in der Küche, die Schüssel, die Kinder, das Funktionieren.
„Ich weiß“, sagte ich. „Und das ist das Problem. Wir sind beide müde, und trotzdem tun wir so, als müsste man sich diese eine Stunde Frieden irgendwie heimlich nehmen.“
Mama stand auf und ging zur Spüle, als würde sie uns Privatsphäre geben, obwohl sie jeden Satz hören konnte. Ich hörte Wasser laufen, viel zu lange, als würde sie sich damit beruhigen.
„Komm nach Hause“, sagte Justinus schließlich. „Bitte. Und… bring Brot mit.“
Ein fast lächerlicher Satz, so normal. Und gerade deshalb so menschlich, dass mir Tränen in die Augen schossen.
„Ich bringe Brot mit“, sagte ich. „Und… ich möchte dir heute Abend alles erzählen. Ohne Drama. Ohne Verteidigung. Einfach… ehrlich.“
„Okay“, sagte er. Wieder Pause. „Und Miriam? Sag deiner Mutter einen Gruß.“
Ich legte auf und starrte einen Moment auf das Handy, als hätte es gerade eine Prüfung mit mir gemacht, die ich knapp bestanden hatte. Dann sah ich Mama an. Sie stand immer noch an der Spüle, das Wasser lief, und ihre Schultern waren angespannt.
„Er weiß es“, sagte ich.
„Ich habe es gehört“, antwortete sie, ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme war ruhig, aber sie zitterte ein wenig. „Ist er wütend?“
„Nein“, sagte ich. „Er ist… verletzt. Und müde.“
Sie drehte das Wasser ab und kam zurück an den Tisch. „Dann war es Zeit“, sagte sie, als wäre das eine Feststellung, keine Anklage. „Geheimnisse sind wie Schimmel. Am Anfang sieht man nur einen kleinen Fleck, und irgendwann ist die ganze Wand voll.“
Ich musste trotz allem kurz lachen, weil Mama immer schon diese Bilder hatte, die gleichzeitig hart und wahr waren. Dann wurde ich wieder ernst.
„Mama“, sagte ich und tippte auf den Brief. „Warum hast du mich warten lassen? Warum hast du dich alleine damit getragen?“
Sie setzte sich langsam und zog die Tasse näher zu sich, als bräuchte sie etwas Warmes. „Weil ich dachte, ich muss stark sein“, sagte sie leise. „Weil ich dachte, Stärke heißt: niemanden brauchen.“
Ich nahm ihre Hand. „Stärke heißt manchmal genau das Gegenteil“, sagte ich. „Dass man jemanden braucht und es trotzdem sagt.“
Wir saßen noch ein paar Minuten, und ich merkte, wie sich etwas in mir verschob. Letzte Woche war dieser Dienstag meine Rettungsinsel gewesen. Diese Woche verstand ich: Vielleicht war er nicht nur meine. Vielleicht war er Mamas Rettungsinsel. Vielleicht war er sogar Justinus’ – wenn wir ihn richtig machten.
Als ich ging, stand Mama an der Tür und hielt meinen Mantel, wie sie es früher getan hatte. Nur dass ich jetzt diejenige war, die sich nicht mehr wie ein Kind fühlte, sondern wie jemand, der Verantwortung nicht nur trägt, sondern teilt.
„Kommst du wieder?“, fragte sie, und dieses Mal klang es nicht nur nach Sehnsucht, sondern nach Angst, die sie nicht laut aussprechen wollte.
„Ja“, sagte ich fest. „Aber anders. Nicht als Geheimnis. Als… Teil unseres Lebens.“
Sie nickte, und ihre Augen glänzten. „Dann bring beim nächsten Mal Justinus mit“, sagte sie, fast schüchtern. „Nicht, weil ich Kontrolle will. Sondern weil… ich ihn auch vermisse.“
Ich fuhr nach Hause durch den Feierabendverkehr, der wie immer zäh floss, und doch fühlte sich mein Kopf leichter an. Nicht, weil alles gelöst war, sondern weil ich aufgehört hatte, gegen meinen eigenen Verstand zu kämpfen wie gegen einen Feind.
Zu Hause roch es nach Tomatensoße und etwas Angebranntem. Im Flur lag Chaos, als hätte jemand einen kleinen Sturm losgelassen. Justinus stand in der Küche, die Ärmel hochgekrempelt, ein Klecks Soße auf der Wange, und als er mich sah, war da kein Richterblick, sondern ein Mensch, der nicht mehr alleine tragen wollte.
„Da bist du“, sagte er.
„Da bin ich“, antwortete ich. Ich stellte das Brot auf den Tisch, als wäre es ein Friedensangebot.
Die Kinder schrien durcheinander, wollten erzählen, wollten zeigen, wollten Aufmerksamkeit. Und ich merkte, wie mein alter Reflex anspringen wollte: kontrollieren, ordnen, retten. Stattdessen ging ich zu Justinus, legte die Hand an seine Schulter und spürte, wie angespannt er war.
„Heute Abend“, sagte ich leise, damit nur er es hörte. „Wenn sie schlafen. Dann reden wir. Und dann… machen wir einen Plan, der nicht nur funktioniert, sondern uns auch leben lässt.“
Er sah mich an, lange. Dann nickte er, einmal.
„Und Miriam“, sagte er, und ein schwaches, erschöpftes Lächeln zuckte über sein Gesicht. „Wenn du dir wieder Zeit stiehlst… stiehl sie nicht von mir. Stiehl sie mit mir.“
Später, als die Kinder endlich schliefen und das Haus zum ersten Mal an diesem Tag so etwas wie Ruhe ausatmete, saßen wir nebeneinander auf dem Sofa. Ich hielt sein Handgelenk, als müsste ich mich vergewissern, dass wir beide wirklich da waren, nicht nur Körper, sondern Menschen.
„Es fing mit einem freien Tag an“, begann ich, und ich erzählte ihm alles. Vom gelöschten Betreff, von der Bäckerei, von den Mohnschnecken, vom Lachen, vom Brief. Ich erzählte ihm auch von dem Moment, in dem ich gemerkt hatte, wie leicht ich lügen kann, wenn ich glaube, dass ich sonst keine Luft bekomme.
Justinus hörte zu, ohne mich zu unterbrechen. Als ich fertig war, rieb er sich über das Gesicht, als müsste er sich sortieren.
„Ich bin traurig, dass du dachtest, du musst das alleine machen“, sagte er schließlich. „Aber ich… ich verstehe es. Mehr, als mir lieb ist.“
Ich nickte, und eine Träne lief mir über die Wange, leise, ohne Drama. „Ich will nicht, dass unsere Ehe ein Projekt wird“, flüsterte ich. „Ich will, dass sie ein Zuhause ist.“
Er nahm meine Hand fester. „Dann lass uns das Zuhause bauen“, sagte er.
Und irgendwo in mir, zwischen Schuld und Erleichterung, zwischen Muttersein und Frau-sein, spürte ich etwas, das ich lange nicht gespürt hatte: Hoffnung, die nicht laut ist, aber hartnäckig. Die Art Hoffnung, die nicht von alleine kommt, sondern die man sich nimmt – nicht als Verbrechen, sondern als Recht.
Am Ende der Nacht vibrierte mein Handy. Eine Nachricht von Mama.
„Ich habe den Brief weggelegt. Nicht aus Angst. Sondern weil ich heute nicht alleine war. Danke.“
Ich sah Justinus an, und diesmal hielt ich das Handy nicht wie ein Geheimnis. Ich zeigte es ihm.
Er las, schluckte, und sagte dann leise: „Nächsten Dienstag… fahre ich mit.“
Ich atmete aus, als hätte ich die ganze Woche die Luft angehalten. Draußen wehte der Wind um die Schieferdächer der Altstadt, grau und schwer wie immer. Aber drinnen, in unserem unperfekten Wohnzimmer mit Spielzeug auf dem Boden, fühlte es sich an, als wäre endlich Platz entstanden.
Nicht für mehr Aufgaben. Für mehr Leben.






