Teil 4: Spuren im Nebel
Die Stille hatte eine andere Farbe an diesem Morgen.
Nicht grau. Nicht blau.
Eher wie Papier, das man vergessen hatte zu beschreiben.
Marlies stand barfuß im Flur.
Das Haar noch nicht gekämmt, der Morgenmantel offen.
Sie blickte auf die leere Decke vor dem Ofen.
Noch warm. Aber leer.
„Lotta?“
Keine Antwort.
Sie rief ein zweites Mal.
Dann ein drittes. Leiser.
Nicht weil sie hoffte, sondern weil die Angst den Ton verschluckte.
Die Haustür war nur angelehnt.
Der Griff feucht vom Nebel.
Draußen lag der Hof im frühen Dämmerlicht – blass, gespenstisch, als hätte die Nacht sich noch nicht ganz zurückgezogen.
Marlies ging hinaus.
Über den Kies, der nass war von feinem Niesel.
Jeder Schritt hallte leise, wie in einem leeren Kirchenschiff.
Dann sah sie sie – die Federn.
Drei.
Sauber. Weiß.
Keine vom Wind verwehte Restposten, sondern nebeneinander auf dem Boden.
Fast hingelegt.
Fast wie ein Zeichen.
„Lotta“, flüsterte sie.
Etwas in ihrer Stimme zitterte.
Nicht nur vor Kälte.
Hella kam kurz nach sieben.
Noch im Schlafanzug unter der Jacke, das Gesicht bleich, der Atem kurz.
„Ich hab’s gesehen. Sie war bei mir. Vor dem Stall.“
„Wann?“
„Kurz nach sechs. Ich dachte, ich träume. Sie hat still dagestanden. Dann ist sie Richtung Bach gegangen.“
Marlies griff nach ihrer Wollmütze.
„Ich geh.“
„Allein?“
„Ich muss.“
Der Weg zum Bach war matschig.
Laub, feucht und schwer, klebte an ihren Gummistiefeln.
Die Welt war still, als hielte sie den Atem an.
Nur manchmal knackte ein Ast, als würde etwas oder jemand gehen – aber nie dort, wo Marlies gerade war.
Am Bach war nichts.
Nur der gewohnte Lauf, trüb vom letzten Regen, das Wasser glitt träge um einen umgestürzten Stamm.
Aber dann sah sie es:
Eine Stelle am Ufer, wo die Erde frisch aufgewühlt war.
Pfotenabdrücke. Tief, unregelmäßig.
Und daneben: Gänsespuren.
Marlies kniete sich hin.
Berührte den Boden, als könnte sie spüren, was geschehen war.
Dann – ein Laut.
Kein Bellen.
Ein Rascheln.
Hinter ihr.
Sie drehte sich um.
Und da stand sie.
Lotta.
Am Waldrand.
Das Fell feucht, die Beine zitternd, aber aufrecht.
Hinter ihr – zwei Gänse.
„Du verrückte…“, flüsterte Marlies und lief los.
Sie sank auf die Knie, schloss Lotta in die Arme.
Und da, mitten im feuchten Laub, ließ sie Tränen zu, die sie seit Tagen getragen hatte wie einen zu engen Mantel.
Lotta leckte ihre Wange.
Nicht verspielt. Nicht hastig.
Sondern still. Wie ein Dank.
Sie gingen langsam zurück.
Lotta brach zweimal ein – die Hinterläufe wollten nicht mehr wie früher.
Aber sie wollte.
Und Marlies trug sie den Rest.
Vor dem Haus wartete Hella.
Mit einem Frotteetuch und einer Schale lauwarmer Hafermilch.
„Sie wollte sich verabschieden“, sagte sie.
„Aber sie kam zurück“, antwortete Marlies.
Die Gänse standen am Zaun.
Diesmal nur drei.
Sie blieben dort bis zum Mittag.
Dann verschwanden sie.
Und kamen nie wieder.
Zuhause legte Marlies eine neue Decke vor den Ofen.
Sie zupfte lange daran herum, legte das Kissen zweimal um, bevor sie zufrieden war.
Dann half sie Lotta, sich zu legen.
Die Hündin atmete tief aus.
So, wie man ausatmet, wenn man endlich wieder angekommen ist.
Am Abend saßen sie zu dritt in der Küche.
Hella hatte Gemüsesuppe mitgebracht, mit viel Majoran und einer Spur Liebstöckel.
„Was machst du, wenn’s wieder passiert?“, fragte sie vorsichtig.
Marlies sah nicht auf.
„Dann geh ich mit.“
„Wie meinst du das?“
„Ich meine, ich fahr mit ihr. Wohin auch immer.“
Hella schwieg einen Moment.
Dann: „Aber noch ist sie da. Und das heißt: Jetzt zählt.“
Die Tage danach waren ruhig.
Lotta fraß wenig, aber regelmäßig.
Sie schlief viel, stand selten auf.
Aber wenn Marlies das Haus verließ – nur für fünf Minuten, um das Altglas zum Container zu bringen – dann wartete sie. Immer am Fenster. Mit diesen Augen, die nichts hielten, aber alles gaben.
Eines Nachmittags kam der Brief.
Der Tierarzt.
Eine Empfehlung für eine Medikamentenumstellung.
Und eine Notiz: „Bei guter Reaktion denkbar: Herzultraschallkontrolle in drei Wochen.“
Drei Wochen.
Klang wie eine Ewigkeit.
Und doch: ein Ziel.
In der folgenden Nacht regnete es stark.
Marlies träumte unruhig – von Wasser, das durch Fenster sickerte, von einer Decke, die sie nicht zudecken konnte.
Sie wachte auf.
Und Lotta war nicht am Platz.
Nur das leere Kissen.
Und auf der Fensterbank – eine tote Amsel.