Ein Herz für Lotta | Sie brach unter der Linde zusammen – doch was danach geschah, bewegte ein ganzes Dorf

Teil 5: Die Amsel am Fenster


Sie sah aus, als würde sie schlafen.
Die Flügel eng an den Körper gezogen, der Schnabel leicht geöffnet, ein Hauch von Gold am Hals.
Doch sie war starr.
Und tot.

Marlies starrte auf die Amsel auf ihrer Fensterbank.
Lotta war nicht da.
Das Kissen noch leicht warm, aber leer.
Wieder dieses Gefühl von Entgleiten.
Diesmal schneller. Tiefer.

Sie schob das Fenster auf.
Feuchte Nachtluft strömte herein, schwer von Regen, vermischt mit dem Geruch nasser Erde und etwas Undefinierbarem.
Etwas, das an Abschied erinnerte.

Dann hörte sie es.
Ein Kratzen.
Ganz leise.
Nicht draußen – sondern im Haus.


Sie fand Lotta im Flur.
Die Hündin hatte sich an die Eingangstür gelehnt, wie ein Wächter, der seinen Posten nicht verlassen wollte.
Ihre Pfoten rutschten leicht auf den Fliesen, sie zitterte.
Doch als Marlies näherkam, hob sie den Kopf.
Ein Blick, voller Bitte – nicht Mitleid.
Ein stiller Befehl.

„Du willst raus?“
Lotta antwortete nicht. Aber sie stand auf.
Wankend.
Langsam.
Wie ein uralter Baum, der sich doch noch einmal gegen den Wind stemmt.


Marlies öffnete die Tür.
Der Regen war sanft geworden.
Nur noch Tropfen, die vom Dach in die Pfützen fielen.
Die Uhr im Flur zeigte drei Uhr morgens.

Lotta ging einen Schritt hinaus.
Dann blieb sie stehen.
Schaute zurück.

Marlies trat barfuß auf den Kies.
„Ich geh mit.“

Sie folgten dem schmalen Pfad am Garten entlang, vorbei an dem alten Apfelbaum, den niemand mehr beschnitt.
Dort, wo das Gras weicher wurde, blieb Lotta stehen.
Schaute in die Dunkelheit.

Und dann – wie aus dem Nichts – tauchte etwas auf.


Ein Reh.
Zart, wie aus Nebel geschnitten.
Es stand vielleicht zehn Meter entfernt.
Bewegungslos.
Die Ohren aufgerichtet, die großen Augen wach, aber nicht erschrocken.

Lotta sah es an.
Und das Reh sah zurück.

Für einen Moment standen sie da – zwei Wesen, gezeichnet vom Herbst des Lebens.
Dann senkte das Reh den Kopf.
Ein Gruß?
Ein Abschied?

Es drehte sich um – und verschwand im Dunkel.

Lotta setzte sich hin.
Langsam.
Und schloss die Augen.


Marlies kniete sich neben sie.
Legte eine Hand auf ihre Schulter.
Und wartete.
Sie wusste nicht worauf.
Nur, dass dieser Moment wichtig war.

Dann stand Lotta wieder auf.
Nicht kraftvoll.
Aber aus eigenem Willen.

Sie gingen zurück ins Haus.


Am Morgen lag die Amsel noch immer auf der Fensterbank.
Marlies nahm sie mit einem alten Geschirrtuch auf, trug sie hinaus zum Kompost.
Aber als sie die Erde anhob, sah sie darunter einen Ring.

Ein schmaler, rostiger Fingerring.
Sie erinnerte sich.
Den hatte Friedrich ihr einmal in den ersten Jahren ihrer Ehe vom Jahrmarkt mitgebracht.
Er war lange verloren gewesen.
Jetzt lag er hier – unter einer Amsel.

Sie hob ihn auf.
Und lachte.
Kurz.
Wehmütig.

„Du erinnerst mich an Dinge, die ich vergessen wollte“, sagte sie zu Lotta, als sie zurückkam.
Die Hündin lag wieder auf der Decke.
Der Blick wach.
Der Körper schwach.
Aber da.


Die Tage danach waren wie Glas:
Klar, fragil, voller Licht – und doch ständig in der Gefahr zu zerspringen.

Marlies fütterte Lotta in kleinen Portionen.
Gekochtes Huhn. Etwas Reis.
Die Medikamente gingen jetzt leichter runter – mit Leberwurst als Hülle.

Der Tierarzt rief an.
„Wenn sie sich stabil hält, können wir nächste Woche kontrollieren. Ich mache keine falschen Hoffnungen – aber manchmal überrascht einen das Leben.“

Marlies sagte nichts.
Denn sie wusste: Hoffnung war ein Tier, das man nicht zu laut rufen durfte.


Eines Morgens, als der erste Raureif den Garten überzog, kam Hella mit einem Vorschlag.

„Ich hab einen Rollwagen. Früher für unseren alten Dackel. Vielleicht kann Lotta damit wieder ein paar Meter gehen.“
„Ein Rollwagen?“
„Hinten Räder, vorne Pfoten. Es sieht komisch aus – aber es hilft.“

Sie holten ihn aus dem Schuppen.
Entstaubten ihn. Ölten die Räder.

Als sie Lotta hineinsetzten, zitterte sie.
Nicht aus Angst – sondern Überforderung.

„Nur wenn sie will“, sagte Marlies.

Lotta stand.
Ging einen Schritt.
Dann noch einen.

Marlies’ Herz schlug schneller als bei ihrer eigenen Jugendliebe.
Hella klatschte in die Hände.
„Na also!“


Die Gänse kamen nicht mehr.
Aber ein neuer Vogel tauchte auf.
Ein Eichelhäher.

Er setzte sich jeden Morgen auf den Zaun.
Krächzte.
Einmal, zweimal.
Dann verschwand er.

Lotta hob jedes Mal den Kopf, wenn er kam.
Und legte ihn erst wieder ab, wenn er gegangen war.

Marlies begann, ihm kleine Nüsse hinzulegen.
Und hatte das Gefühl, er beobachtete sie dabei.


An einem Freitag, genau zwei Wochen nach jener Nacht, in der Lotta verschwunden war, geschah etwas.

Ein Brief.

Kein offizieller, sondern handgeschrieben.

„Sehr geehrte Frau Stein,
ich habe Ihre Hündin gesehen. Am Bach. Sie war nicht allein. Ich wollte es Ihnen nur sagen. Es war ein Moment, den ich nicht vergessen werde.
Mit stillen Grüßen, A. Müller“

Kein Ort. Keine Erklärung.
Nur dieser Satz: Sie war nicht allein.


In der Nacht schreckte Marlies auf.
Ein Geräusch.
Ein Aufprall.
Sie lief ins Wohnzimmer.
Lotta lag ruhig.
Doch das Fenster war offen.
Und auf der Fensterbank – ein Eichelhäher. Tot.

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