Teil 6: Der Vogel, der nicht mehr flog
Er lag wie ein Stück Schatten auf dem hellen Holz.
Federn gesträubt, die Flügel halb geöffnet, ein blasser Streifen Blut an der Kante des Fensters.
Der Eichelhäher war tot.
Marlies stand barfuß in der Stube.
Die Nacht roch nach kaltem Glas und nassem Holz.
Ihr Atem ging schnell – aber nicht vor Schreck.
Sondern weil etwas in ihr zitterte, das sie nicht benennen konnte.
Lotta hatte nicht gebellt.
Nicht gewinselt.
Sie lag ruhig auf der Decke.
Aber ihre Augen waren offen.
Und blickten genau dorthin – zur Fensterbank.
„Was ist das hier?“, flüsterte Marlies.
Niemand antwortete.
Sie holte ein altes Backblech aus der Speisekammer.
Legte den Vogel behutsam darauf, mit einem gefalteten Küchentuch unter dem Schnabel.
So viel Würde musste sein.
Dann schloss sie das Fenster.
Und setzte sich auf den Boden.
Neben Lotta. Neben den Fragen.
Der Morgen kam langsam, fast zögerlich.
Als traue er sich nicht über das, was geschehen war.
Am späten Vormittag stand Hella im Türrahmen.
„Ich hab’s gesehen“, sagte sie, kaum eingetreten.
„Was?“
„Den Vogel. Er flog nicht gegen das Fenster. Er wurde geworfen.“
Marlies erstarrte.
„Wie meinst du das?“
„Ich war draußen, ich konnte nicht schlafen. Ich hörte Flügelschläge. Dann war da ein Schlag – aber von außen. Nicht gegen die Scheibe, sondern… als hätte ihn jemand fallen lassen.“
Marlies schwieg.
Ihr Blick wanderte zu Lotta.
Die hob leicht den Kopf, dann legte sie ihn wieder ab.
Sie begruben den Vogel unter der Linde.
Dort, wo Lotta kollabiert war.
Hella steckte einen kleinen Zweig in die Erde.
Marlies legte drei weiße Kiesel daneben.
„Für die Gänse“, sagte sie leise.
Niemand lachte.
In den Tagen darauf wurde Lotta ruhiger.
Nicht schwächer – das nicht.
Aber stiller.
Sie schlief mehr.
War oft wach, aber bewegte sich kaum.
Nur wenn der Wind durch den Garten strich, richtete sie sich auf.
So, als würde sie auf etwas warten.
Nicht auf Marlies.
Nicht auf Futter.
Sondern auf… einen Klang? Einen Schritt?
Marlies wagte es kaum, sich das zu fragen.
Eines Abends, während sie Tee aufbrühte, stand Lotta plötzlich im Türrahmen zur Küche.
Ohne Hilfe.
Ohne Rufen.
Sie stand einfach da.
Und schaute sie an.
„Was ist denn, mein Mädchen?“, fragte Marlies sanft.
Keine Antwort.
Lotta drehte sich um.
Ging zur Haustür.
Schaute zurück.
„Du willst raus? Jetzt?“
Ein leises Schnauben.
Marlies öffnete die Tür.
Der Abend war mild, feucht, beinahe sanft.
Der Himmel wolkenlos. Die Luft roch nach Erde und Holz.
Lotta trat hinaus.
Marlies folgte ihr.
Sie gingen schweigend durch den Garten.
Dann über den kleinen Weg, der zum Bach führte.
Langsam. Schritt für Schritt.
Lotta vorne. Marlies zwei Schritte dahinter.
Als sie den Waldrand erreichten, blieb Lotta stehen.
Der Bach glitzerte unter dem Mond.
Stille.
Dann hob Lotta den Kopf.
Und bellte.
Dreimal.
Kurz.
Klar.
Als wolle sie rufen. Oder antworten.
Marlies drehte sich um.
Da war niemand.
Nur der Schatten der Bäume.
Und… etwas Bewegung.
Ein Reh? Ein Mensch?
Es war zu schnell, zu leise, zu weit weg.
Lotta bellte nicht mehr.
Sie setzte sich hin.
Und schloss die Augen.
Marlies kniete sich zu ihr.
Legte eine Hand auf ihr Fell.
Spürte den Rhythmus des Herzens – unregelmäßig, flach, aber da.
„Wenn du gehen willst… dann sag’s mir“, flüsterte sie.
Lotta rührte sich nicht.
Sie blieben eine Weile so.
Dann stand Lotta auf.
Und ging zurück.
Ohne Hilfe.
Am nächsten Morgen war der Himmel grau.
Ein feiner Nieselregen bedeckte das Dorf.
Marlies saß mit Hella in der Küche.
Redete wenig. Trank viel Tee.
Dann klopfte es.
Ein Junge stand vor der Tür. Vielleicht elf. Blonde Haare, zu groß für seinen Mantel.
„Sind Sie Frau Stein?“
„Ja?“
„Ich soll das hier geben.“
Er reichte ihr einen kleinen Umschlag.
Keine Marke. Keine Adresse.
Nur „Für Lotta“.
Sie öffnete ihn mit zitternden Fingern.
„Sie hat etwas gesehen, was wir nicht sehen konnten.
Sie hat bewahrt, was verloren war.
Wenn die Zeit kommt – lassen Sie sie nicht allein gehen.“
Kein Name. Kein Absender.
Hella war blass.
„Was ist das für eine Nachricht?“
Marlies schüttelte den Kopf.
„Ich weiß es nicht. Aber… ich glaube, ich verstehe.“
Sie setzte sich zu Lotta.
Legte den Brief neben die Decke.
„Ich bin hier. Du wirst nicht allein gehen.“
In der Nacht begann Lotta zu hecheln.
Nicht laut. Nicht panisch.
Aber gleichmäßig.
Wie ein Motor, der weiß, dass seine letzte Fahrt beginnt.
Marlies saß neben ihr. Und flüsterte ein einziges Wort: „Jetzt?“