Teil 7: Und dann kam der Morgen nicht
Die Nacht blieb.
Sie wich nicht, wie sonst, gegen vier Uhr mit einem Hauch von Licht.
Sie klebte am Fenster, saß auf den Möbeln, schlich sich in jede Ritze.
Marlies spürte, dass etwas anders war.
Die Dunkelheit hatte ein Gewicht.
Lotta hechelte noch immer.
Langsam.
Nicht angestrengt – aber durchdrungen von einer Müdigkeit, die tiefer war als alle Erschöpfung.
Sie lag ausgestreckt.
Nicht zusammengerollt wie früher.
Der Kopf flach, die Augen halb geschlossen.
Marlies saß auf dem Boden.
Eine Decke über den Knien.
Die Finger ruhten in Lottas Fell, dort, wo es am Hals weicher war.
Sie zählte keine Atemzüge mehr.
Nur noch Pausen.
Gegen halb sechs drehte Lotta den Kopf.
Ganz leicht.
Ein Blick, kaum zu greifen.
Aber Marlies sah ihn.
Und wusste: Das war kein Zufall.
„Ich bin da“, sagte sie leise.
Nicht tröstend.
Nicht beruhigend.
Sondern einfach – anwesend.
Lotta hob eine Pfote.
Zittrig.
Und ließ sie auf Marlies’ Hand sinken.
Dann – ein Laut.
Kein Bellen. Kein Winseln.
Ein Hauch von Ton.
Wie ein letzter Gedanke.
Und dann kam nichts mehr.
Der Morgen ließ sich Zeit.
Er tastete sich langsam ins Haus, fand Marlies reglos auf dem Boden, die Stirn an Lottas Pfote.
Die Gänse waren nicht da.
Auch der Eichelhäher war fort.
Nur Stille.
Und ein Körper, der kein Zuhause mehr war.
Hella kam um acht.
Sie trat ein, sah Marlies, sagte kein Wort.
Setzte sich einfach dazu.
Zwei Frauen. Ein Tier. Und das, was bleibt.
Nach einer Weile flüsterte Marlies:
„Ich glaube, sie hat gewartet. Bis ich bereit war.“
Hella nickte.
„Sie wusste, dass du es bist.“
Sie wickelten Lotta in eine alte Wolldecke.
Die mit den kleinen roten Punkten.
Friedrichs Lieblingsdecke gewesen.
Sie trugen sie zu zweit hinaus, in den Garten.
Unter die Linde.
Dort, wo alles angefangen hatte.
Dort, wo alles aufgehört hatte.
Die Erde war hart.
Aber sie gaben nicht auf.
Marlies legte neben den Körper einen kleinen Tonring.
„Sie hat ihn nie getragen“, sagte sie. „Aber er gehörte ihr.“
Dann füllten sie das Loch.
Schicht für Schicht.
Nicht mit Wut.
Sondern mit Sorgfalt.
Der Tag verging, ohne dass er etwas wollte.
Keine Aufgabe. Kein Besuch.
Nur Stille.
Am Abend setzte sich Marlies vor die Tür.
Die Bank war kalt, aber sie blieb.
Dann sah sie etwas.
Ein Stück Papier.
Eingeklemmt zwischen den Zaunlatten.
Sie ging hin.
Zog es heraus.
Ein gefalteter Zettel, von Feuchtigkeit gewellt.
„Sie ist angekommen.
Der Weg war lang.
Aber jemand hat gewartet.“
Keine Unterschrift.
In den Wochen danach veränderte sich alles.
Nicht laut.
Nicht plötzlich.
Aber spürbar.
Marlies wachte morgens auf – und erwartete nicht mehr das Geräusch von Krallen auf Holz.
Der Fressnapf blieb leer.
Aber sie stellte ihn nicht weg.
Sie ging wieder öfter durchs Dorf.
Sprach mit Menschen, die sie lange nicht gesehen hatte.
Viele fragten nach Lotta.
Sie antwortete mit einem Lächeln, das fast hielt.
„Sie war mein Herz“, sagte sie.
Und niemand widersprach.
Der Frühling kam früher als sonst.
Die Linde trieb Knospen, obwohl der Boden noch gefroren war.
Eines Morgens, Ende Februar, stand ein kleines Mädchen am Gartentor.
Sie war vielleicht sieben. Hatte einen dicken grünen Schal und trug eine Puppe im Arm.
„Hier wohnt die Frau mit dem Hund?“, fragte sie.
Marlies trat näher.
„Ja. Aber der Hund ist nicht mehr da.“
Das Mädchen nickte.
„Ich weiß. Aber sie hat mir gestern was gezeigt. Im Traum.“
„Wer?“
„Die Hündin. Sie hat mich angeschaut. Und dann war da ein Licht.“
Marlies sagte nichts.
Nur der Wind bewegte sich.
In der Nacht hörte Marlies wieder dieses Bellen.
Nicht in der Wirklichkeit.
Aber in etwas Tieferem.
Und als sie aufwachte, lag ein Federbüschel auf dem Fenstersims.
Drei Farben: Weiß. Braun. Gold.