Teil 8: Das, was bleibt
Marlies hielt das Federbüschel zwischen Daumen und Zeigefinger.
Die Federn waren weich, noch nicht vom Wind zerzaust.
Weiß wie Schnee.
Braun wie Herbstlaub.
Gold wie Morgensonne.
Sie rochen nach nichts.
Und doch war etwas darin.
Etwas, das nicht sichtbar war, aber spürbar – wie ein stiller Blick über die Schulter, wenn niemand da ist.
Ein Gruß vielleicht.
Oder ein letzter Streifzug durch die Welt.
Am Nachmittag ging Marlies hinunter zur Linde.
Sie hatte den Platz nicht mehr besucht, seit sie Lotta dort begraben hatten.
Es fiel ihr schwer.
Nicht, weil sie den Ort mied – sondern weil er sich verändert hatte.
Das Gras war flachgedrückt.
Aber mittendrin wuchs etwas Neues.
Ein einzelner Krokus.
Viel zu früh.
Und viel zu leuchtend für diesen Tag.
Sie hockte sich hin, streichelte die Blätter.
Sie dachte nicht an Wunder.
Aber sie glaubte an Zeichen.
In den folgenden Tagen kam das Mädchen öfter.
Sie hieß Lisa.
Lebte mit ihrer Mutter zwei Straßen weiter.
Still, neugierig, mit diesem Blick, den nur Kinder haben – als würden sie Dinge sehen, die andere längst verlernt haben.
„Ich kann dir helfen im Garten“, sagte sie.
Marlies lächelte.
„Magst du Erde an den Fingern?“
Lisa nickte.
„Und ich bin gut im Warten.“
So begann es.
Zuerst ein paar Stunden am Wochenende.
Dann kam sie nach der Schule.
Marlies gab ihr eine Schaufel, ein altes Sitzkissen und die Verantwortung für das Beet an der Ostseite.
„Hier wächst nur, was geduldig ist“, erklärte sie.
Lisa nickte ernst.
Eines Tages brachte Lisa ein Bild mit.
Mit Filzstiften gezeichnet.
Ein Hund unter einem Baum.
Darüber ein großer, goldener Kreis.
„Das ist Lotta“, sagte sie.
„Woher weißt du, wie sie aussah?“
„Ich hab’s geträumt.“
Marlies sagte nichts.
Aber ihre Hände zitterten, als sie das Bild aufhängte.
Es war Anfang März, als Hella sie abfing – mit einem Ausdruck, der zwischen Neugier und Ernsthaftigkeit schwankte.
„Du, Marlies… hast du den Tierarzt eigentlich nochmal angerufen?“
„Nein. Wozu?“
„Wegen dem Kontrolltermin. Vielleicht… vielleicht wäre das gut. Für dich. Um es abzuschließen.“
Marlies überlegte.
Dann sagte sie:
„Manche Dinge muss man nicht kontrollieren. Man muss sie lassen.“
In jener Nacht träumte sie wieder.
Aber diesmal war alles anders.
Sie ging über ein Feld.
Weit, offen, unter einem tiefblauen Himmel.
Neben ihr – das Geräusch von Pfoten auf Erde.
Aber sie sah niemanden.
Dann – aus dem Nichts – eine Stimme.
Nicht laut.
Nicht menschlich.
Nur:
„Du hast gehalten, was du versprochen hast.“
Sie wachte mit Tränen auf.
Aber sie fühlten sich leicht an.
Wie Tau auf einem Blatt.
Eine Woche später – das Dorf hatte den Frühling noch nicht bemerkt – kam der Brief.
Nicht im Postkasten.
Er lag auf der Bank vor der Tür.
Kein Absender.
Nur eine Seite.
„Manche Tiere begleiten uns nicht nur bis zur Tür.
Sondern darüber hinaus.
Vielleicht war sie nie nur dein Hund.
Vielleicht war sie Hüterin von etwas, das du vergessen hattest.“
Marlies faltete das Blatt.
Legte es in die Schublade, wo Lottas Halsband lag.
Und den Ring, den sie unter der Amsel gefunden hatte.
Lisa brachte am nächsten Tag eine Vogelfeder mit.
Sie hatte sie auf dem Schulweg gefunden.
„Vielleicht gehört sie zu deinem Hund“, sagte sie.
„Warum denkst du das?“
„Weil du mich so ansiehst, als wärst du gerade bei ihr.“
Die Linde begann Knospen zu werfen.
Und eines Morgens, als Marlies den Garten fegte, stand plötzlich wieder ein Vogel auf dem Zaun.
Nicht der Eichelhäher.
Ein kleinerer, grauer Vogel.
Unscheinbar.
Aber sein Blick war still.
Und sein Kopf neigte sich zur Seite, wie ein Gruß.
In der folgenden Nacht hörte Marlies ein Geräusch im Garten.
Sie trat hinaus – ohne Angst, nur mit diesem alten Ziehen im Herzen.
Und da, unter der Linde, lag ein altes Stofftier.
Verwaschen. Voll Erde.
Lottas erstes Spielzeug.
Seit Jahren verloren.