Ein Herz für Lotta | Sie brach unter der Linde zusammen – doch was danach geschah, bewegte ein ganzes Dorf

Teil 9: Was in der Erde blieb


Marlies hob das Stofftier vorsichtig auf.
Ein kleiner Stofffuchs, an einer Seite eingerissen, die Füllung quoll leicht hervor.
Der Geruch war modrig, nach feuchter Erde und längst vergangenen Tagen.

Sie hatte ihn fast vergessen.
Damals hatte Lotta ihn vom Weihnachtsmarkt mitgebracht – oder besser: sich selbst ausgesucht.
Er lag in einem Korb am Stand der Kirchengemeinde.
Und Lotta, damals noch jung und stürmisch, hatte ihre Schnauze hineingesteckt, das Spielzeug herausgezogen, und es nie wieder hergegeben.

Das war acht Jahre her.
Vielleicht neun.
Und seit mindestens vier Jahren war der Fuchs verschwunden.

„Woher…?“, flüsterte Marlies.
Doch die Nacht schwieg.


Sie legte das Tier auf die Fensterbank, neben das Bild, das Lisa gemalt hatte.
Der Fuchs roch nach Vergangenheit.
Aber er fühlte sich nicht traurig an.
Eher wie ein Gruß.
Ein Echo.


Am nächsten Tag fragte Lisa beim Spielen im Garten:
„War Lotta früher mal wild?“
Marlies lächelte.
„Ja. Sehr sogar.“
„Aber warum wurde sie dann so still?“
Marlies dachte kurz nach.
„Weil sie irgendwann genug gesehen hatte. Und weil sie zugehört hat.“

Lisa nickte ernst.
„Ich glaube, sie hört noch immer.“


Die Linde hatte jetzt erste grüne Spitzen.
Und dort, wo der kleine Krokus gewachsen war, spross nun ein zweiter.
Marlies hatte nichts gepflanzt.
Und auch Hella nicht.

„Vielleicht bringt der Wind jetzt anderes mit“, sagte Marlies.
Hella nickte.
„Oder das, was wir brauchen.“


Am Abend saß Marlies in der Küche.
Ein leiser Wind strich durchs Fenster.
Das Stofftier lag neben ihr auf der Bank.

Plötzlich fiel ihr Blick auf die Schublade mit dem Halsband.
Sie öffnete sie.
Nahm es heraus.
Streichelte das Leder.

Darin war ein winziger Zettel geklemmt – sie hatte ihn nie bemerkt.

Mit Bleistift stand dort, in fast kindlicher Schrift:

„Wenn du wieder alleine gehst – geh nicht allein.“

Marlies’ Atem stockte.
Der Satz war nicht neu.
Sie hatte ihn gehört – einmal.
Von Friedrich.
Kurz nach seinem Schlaganfall.
Bevor er starb.


Sie hielt das Halsband fest umklammert.
Es war nicht Schmerz, was in ihr aufstieg.
Es war… etwas Weiches.
Etwas, das sie fast vergessen hatte: Hoffnung.


Am nächsten Sonntag lud sie Lisa und Hella zum Kuchen ein.
Einfach so.
Sie backte Apfelkuchen mit Zimt – das Rezept von ihrer Mutter, das sie seit Jahren nicht mehr angerührt hatte.

Der Tisch war gedeckt.
Frische Tulpen in einer alten Vase.
Der Stofffuchs saß still in einer Ecke.
Und zum ersten Mal seit Langem lachte Marlies laut, als Lisa einen ihrer Witze erzählte – irgendwas mit einem Bären und einer Gießkanne.


Nach dem Kuchen gingen sie gemeinsam zur Linde.
Marlies trug einen kleinen Tonkrug.
Lisa hielt eine Kerze.

„Ich will ihr was sagen“, meinte das Mädchen.
„Dann sag’s.“

Lisa kniete sich hin.
Zündete die Kerze an.
„Danke“, flüsterte sie.
„Dass du zurückgekommen bist. Auch wenn du gar nicht musstest.“

Marlies sah hinunter auf das Grab.
Der Wind bewegte leise die Blätter der jungen Triebe.


In der Nacht schneite es.
Ein letzter, verspäteter Wintergruß.
Der Garten war am Morgen weiß, leise, fast heilig.
Auf dem Fensterbrett lagen drei neue Federn.

Eine davon – fast durchsichtig.
Wie aus Licht gemacht.


Später fand Marlies im Garten eine frische Vertiefung im Boden.
Klein. Rund.
Darin: ein einziger Pfotenabdruck.
Nicht tief genug für einen Hund.
Aber da.
Und ganz in der Nähe – ein Krokus. In voller Blüte.

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