Teil 10: Was sie hinterließ
Der Pfotenabdruck blieb.
Auch als der Schnee taute, als Regen fiel, als die Sonne kam.
Er verwischte nicht.
Er wurde nicht ausgefüllt von Erde.
Er blieb – als wäre die Welt um ihn herum in Bewegung, aber dieser eine Punkt hatte beschlossen, zu verweilen.
Marlies kniete sich davor.
Streichelte ihn nicht.
Berührte ihn nicht.
Schaute ihn nur an.
„Du warst hier“, flüsterte sie.
„Und du bist es immer noch.“
In den Tagen danach wurde das Dorf stiller.
Oder vielleicht war es Marlies, die nun mehr hörte.
Die Zwischentöne.
Das Knarzen der Apfelbaumäste, das Schnattern der Enten am Dorfbach, das Rascheln eines Igels, der zu früh aus dem Winterschlaf kam.
Sie ging öfter spazieren.
Nicht weit.
Aber immer am selben Pfad entlang, an dem sie früher mit Lotta gegangen war.
Einmal sah sie eine Frau mit einem alten Beagle.
Der Hund blieb stehen, schaute Marlies lange an – dann senkte er den Kopf.
Die Frau sagte:
„Er macht das sonst nicht.
Als würde er jemanden erkennen, den er nicht kennen kann.“
Marlies lächelte.
Und ging weiter.
Lisa kam nun täglich.
Nicht immer zum Helfen.
Manchmal nur, um zu sitzen.
Oder zu erzählen.
„Ich hab ihr einen Brief geschrieben“, sagte sie eines Nachmittags.
„Wem?“
„Lotta. Ich hab ihn verbrannt. Dann kann sie ihn lesen, wo sie jetzt ist.“
Marlies sagte nichts.
Manche Dinge sagt man nicht laut – weil sie sonst kleiner werden.
Der Frühling entfaltete sich langsam, fast zaghaft.
Die Krokusse am Grab wurden zu Tulpen.
Die Linde begann, Schatten zu werfen.
Und eines Morgens – am Tag, an dem Lotta genau drei Monate fort war – lag ein Päckchen vor Marlies’ Tür.
Keine Absenderadresse.
Nur ein Etikett:
„Für das, was blieb.“
Sie öffnete es mit vorsichtigen Fingern.
Darin: ein kleiner, handgefertigter Holzrahmen.
Und darin – ein gezeichnetes Bild.
Lotta, unter der Linde.
Und über ihr – eine Gänseformation am Himmel.
Nicht exakt. Nicht realistisch.
Aber voll von etwas, das echter war als jeder Schnappschuss:
Erinnerung.
Sie hängte das Bild über ihren Esstisch.
Direkt neben das Fenster.
Wenn das Licht morgens fiel, schimmerte der Himmel darin.
Eines Tages kam Hella mit einem Vorschlag.
„Der alte Herr Litzmann zieht ins Pflegeheim. Sein Hund ist bei niemandem willkommen.“
„Was für ein Hund?“
„Ein alter Schäferhund. Sanft, sagt man. Aber trauert. Seit Tagen frisst er kaum.“
Marlies schwieg lange.
Dann:
„Bring ihn vorbei. Nur auf Zeit.“
Als sie den Hund sah, stand sie still.
Er war groß, schwarz-grau, mit müden Augen.
Sein Name war Basko.
Er legte sich ohne Widerstand in Lottas alten Platz.
Und schlief.
Acht Stunden durch.
Am nächsten Morgen fraß er.
Nicht gierig.
Aber entschieden.
Lisa taufte ihn „den stillen Wächter“.
Und Marlies wusste:
Dieser Hund würde nie Lotta ersetzen.
Aber er würde Platz bekommen – neben ihr.
Und das war genug.
An einem Sonntag – der erste richtige Sonnentag des Jahres – saßen sie zu dritt unter der Linde.
Marlies, Lisa, Hella.
Basko lag zu ihren Füßen.
Sie aßen Rhabarberkuchen und sprachen über früher.
Und über das Jetzt.
Und ein bisschen über das Danach.
Dann kam Lisa mit einer Idee:
„Wir sollten einen kleinen Stein machen. Für Lotta.“
„Was für einen Stein?“
„Einen, auf dem steht, was sie war.“
Marlies dachte nach.
Dann lächelte sie.
Zwei Wochen später war der Stein fertig.
Lisa hatte ihn mit einem Stift beschrieben, Hella hatte ihn lackiert.
Marlies grub das Loch.
Sie setzten ihn am Rand des Grabs ein.
Nicht aufdringlich.
Einfach da.
Darauf stand in kindlicher Schrift:
Lotta
Herz auf vier Pfoten.
Sie ist nicht weg. Nur weiter.
Schlussbild – Letzter Absatz der Geschichte:
Wenn der Wind leise wurde, hörte man manchmal ein Bellen.
Nicht laut.
Nur ein Hauch.
Und auf der Fensterbank lagen manchmal Federn.
Drei Farben.
Und keine Angst mehr.