Teil 4: Die Begegnung mit Marie
Es war ein Mittwoch, als Ron das erste Mal Dresden wieder sah.
Er hatte gezögert, tagelang. Den Zettel mit Maries Nummer drehte er zwischen den Fingern wie ein zerbrechliches Glas. Dann wählte er. Nicht von Hannelores Festnetz, sondern aus einer Telefonzelle, zwei Straßen weiter. Alte Gewohnheit. Alte Angst.
Marie hatte sofort abgenommen. Ihre Stimme war ruhig. Nicht kalt, aber auch nicht warm. Es waren 18 Jahre vergangen. Zu viele Fragen passten nicht in ein kurzes Gespräch.
„Komm am Samstag“, hatte sie gesagt. „Aber bitte… allein.“
Hannelore nickte, als er es ihr erzählte. Sie machte ihm Frühstück, wie immer. Etwas mehr als sonst. Zwei Eier. Die gute Marmelade. Sie wusste, wie schwer dieser Weg war. Und sie wusste auch, dass er ihn allein gehen musste.
„Ich werde nicht mitkommen“, sagte sie leise. „Aber Sammy und ich warten auf dich.“
Er nickte. Dann sagte er nichts mehr. Aber als er ging, um den Zug zu nehmen, drückte er ihre Hand länger, als er je zuvor getan hatte.
Die Fahrt nach Dresden war ruhig. Der Zug ratterte durch braune Felder und über flache Hügel. Ron starrte aus dem Fenster. Erinnerungen tauchten auf – wie alte Dias im Gegenlicht.
Marie als Kind. Mit Sommersprossen. Mit einem Stoffhasen. Mit Fragen, die er nicht beantworten konnte.
Dann: Stille.
Dann: Jahre.
Dann: der Brief.
Marie lebte in einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Gelb verputzt, mit Apfelbaum im Vorgarten. Ron stieg aus dem Taxi und stand eine Weile einfach nur da. Die Haustür war halb geöffnet. Und dann stand sie im Türrahmen.
Klein, schmal. Die Haare kürzer als früher. Aber die Augen – die waren gleich geblieben. Ihre Mutter hatte dieselben gehabt.
„Hallo, Papa“, sagte sie.
Er trat einen Schritt näher. „Hallo, Marie.“
Dann umarmte sie ihn. Nicht lang. Nicht fest. Aber echt.
Sie saßen auf der Terrasse. Tranken Tee. Sprachen über alles – und gleichzeitig über nichts. Über Dresden, über den Job, über den Apfelbaum, der keine Früchte mehr trug. Dann schweigend.
„Warum bist du damals nicht mehr gekommen?“ fragte sie schließlich.
Ron antwortete nicht sofort. Er blickte in die Weite. Dann sagte er: „Ich hatte nichts mehr zu geben. Nicht mal mir selbst.“
Marie senkte den Blick. „Ich war elf. Ich habe jeden Abend auf den Hof geschaut, ob dein LKW kommt.“
Ron schluckte schwer.
„Und irgendwann hab ich aufgehört zu schauen.“
Sie redeten weiter. Über die Jahre. Über das Loch, das zwischen ihnen klaffte. Keine Vorwürfe. Nur Wahrheit. Manches schmerzte mehr als erwartet. Anderes weniger.
Am Abend holte sie ein Fotoalbum. Staubig. Alt.
„Ich wollte es wegwerfen. Aber… irgendwie konnte ich nicht.“
Sie blätterten. Er sah Bilder von sich – jünger, lachend, mit Öl an den Händen. Bilder von ihr – Geburtstage, Einschulung, ein Fahrrad mit Schleife.
„Ich habe alles verpasst“, sagte er.
„Nicht alles“, flüsterte sie.
Er blieb über Nacht. Im Gästezimmer. Am Morgen frühstückten sie zusammen. Kein großes Versprechen. Kein pathetischer Neubeginn.
Aber Marie sagte: „Du kannst wiederkommen. Wenn du willst.“
Und das war genug.
Zurück in Leipzig wartete Hannelore am Fenster. Sammy saß neben ihr, die Schnauze gegen das Glas gedrückt. Als Ron um die Ecke bog, bellte der Hund kurz – eine rauhe, fast heisere Freude.
Hannelore öffnete die Tür, bevor Ron klingeln konnte. Keine Worte. Nur ein Lächeln.
„Hat sie dich erkannt?“ fragte sie.
„Sie ist ihre Mutter“, sagte er leise. „Und trotzdem… hat sie mir zugehört.“
Sie setzten sich an den Küchentisch. Tee. Brot. Leise Musik.
„Ich hab ihr von dir erzählt“, sagte Ron.
Hannelore hob den Kopf. „Was denn?“
„Dass ich wieder lebe. Wegen dir. Wegen Sammy. Wegen diesem Haus, in dem die Fenster immer offen stehen.“
Die Tage danach waren ruhig. Fast heiter. Der Frühling setzte sich langsam durch. Im Garten wuchsen Schneeglöckchen. Sammy lag oft in der Sonne, sein Fell flimmerte im Licht wie alter Samt.
Einmal sagte Ron, fast beiläufig: „Ich könnte in Leipzig bleiben. Auch offiziell.“
Hannelore sah ihn lange an.
„Ich fürchte nur das Amt.“
„Dann fürchten wir gemeinsam“, sagte er.
Und sie wusste: Er meinte es ernst.
Ein paar Tage später saßen sie mit Sammy im Park. Eine Frau mit zwei Kindern blieb stehen.
„Darf man ihn streicheln?“
„Er sieht nicht mehr“, sagte Hannelore. „Aber er spürt viel.“
Das Mädchen hockte sich hin. „Wie heißt er?“
„Sammy.“
„Warum guckt er so traurig?“
Hannelore schwieg kurz. Dann lächelte sie.
„Vielleicht, weil er die ganze Welt gehört hat. Und nichts davon sehen konnte.“
Später fragte Ron sie: „Denkst du manchmal, dass wir zu spät dran sind?“
Hannelore antwortete: „Nur, wenn ich auf die Uhr sehe.“
Sie schauten einander an. Dann auf Sammy, der an einem Stock kaute, der doppelt so lang war wie er selbst.
„Aber meistens“, fügte sie hinzu, „fühlt es sich an wie der richtige Moment.“