Ein Herz für Sammy | Sie wollte keinen Hund mehr – bis ein zitterndes Bündel ihr Herz zurückbrachte

Teil 5: Wenn der Körper nicht mehr mitmacht

Der Mai kam langsam.

Regen in der Nacht, milde Luft am Morgen, und ein Vogel, der jeden Tag zur selben Zeit auf der Kastanie vor dem Fenster sang. Hannelore hatte begonnen, ihn „Karlchen“ zu nennen, obwohl sie nicht wusste, ob es ein Männchen war. Es spielte auch keine Rolle. Es war schön, ihn zu hören. Etwas Beständiges.

Doch während draußen alles blühte, wurde es in ihr schwerer.

Die Müdigkeit kam früher. Das Aufstehen fiel schwerer. Die Finger waren oft taub beim Aufwachen. Mal links, mal rechts. Sie bemerkte, dass sie sich beim Gehen öfter am Türrahmen festhielt. Und das Zittern – es wurde feiner, aber stetiger.

Sie versuchte es zu ignorieren.

Doch der Körper lügt nicht.


An einem Dienstagmorgen, es war halb neun, kippte sie um.

Nicht dramatisch. Kein Sturz. Kein Bewusstseinsverlust.

Ein leises Wegsacken.

Sie hatte sich gerade gebückt, um Sammy die Futterschale zu geben. Dann verlor sie das Gleichgewicht. Ihre Knie gaben nach, der Kopf schien zu leicht, der Boden zu weit weg.

Ron war in der Küche. Er kam sofort.

„Hanne!“

Sie hob die Hand. „Ich… ich hab mich nur… verrenkt.“

Aber ihre Stimme klang hohl. Fremd.

Ron half ihr hoch. Setzte sie auf den Stuhl. Holte Wasser. Wartete.

Sammy saß da und winselte leise.

„Du musst zum Arzt“, sagte Ron ruhig.

„Ich will nicht ins Krankenhaus.“

„Nur zur Kontrolle. Bitte.“

Sie sah ihn an. Und in seinen Augen keine Ungeduld, kein Druck. Nur Sorge. Und das machte es noch schwerer, Nein zu sagen.


Dr. Krajewski in der Hausarztpraxis nickte ernst, als er ihre Werte sah.

„Die Nervenleitfähigkeit in den Beinen ist vermindert. Das erklärt das Wegsacken. Und Ihre Augen… haben Sie bemerkt, dass Sie unschärfer sehen?“

Hannelore zögerte. Dann nickte sie.

„Sie brauchen Hilfe“, sagte er ruhig. „Kein Pflegeheim. Noch nicht. Aber Unterstützung im Alltag. Ich schreibe Ihnen eine Empfehlung für eine Pflegestufe. Und… bitte, denken Sie über eine Haushaltshilfe nach.“

„Ich hab Ron“, sagte sie.

„Ron ist gut. Aber Ron braucht auch mal Pause. Und Sie brauchen mehr als gute Absicht. Sie brauchen Sicherheit.“


Am Abend sprach sie mit Ron darüber.

„Ich hasse das Gefühl, abhängig zu sein“, sagte sie.

„Du bist nicht abhängig. Du bist verletzt. Wie Sammy.“

„Ich bin nicht krank wie ein Hund.“

„Doch“, sagte Ron leise. „Und das ist keine Schande.“

Sie sah ihn lange an. Dann nickte sie langsam.

„Vielleicht… sollte ich doch mal mit der Krankenkasse reden.“

„Ich helfe dir.“


Zwei Wochen später kam Frau Köstner.

Eine zierliche Frau mit kräftigem Gang und ruhiger Stimme. Sie war Anfang fünfzig, arbeitete seit Jahren als ambulante Pflegekraft. Ihre Hände waren weich, ihre Augen wach.

Beim ersten Besuch sprach sie wenig. Schaute sich um. Fragte nach Gewohnheiten, nach Medikamenten, nach den kleinen Dingen. Hannelore fühlte sich erst wie eine alte Frau – dann wie ein Mensch, der ernst genommen wurde.

„Ich komme dreimal die Woche“, sagte Frau Köstner. „Wir schauen, wie es läuft. Sie bestimmen das Tempo.“

Am Abend sagte Hannelore zu Ron: „Sie erinnert mich an mich. Früher. Nur ohne den Papierkram.“

Er lächelte. „Du warst bestimmt gut in deinem Job.“

„Ich war gut darin, mich um andere zu kümmern.“

Sie sah ihn an. Und spürte, wie schwer es war, dass nun jemand sich um sie kümmerte.


Auch Sammy ging es schlechter.

Seine Schritte wurden langsamer. Die Hinterläufe kraftloser. Manchmal schien er verwirrt – stand im Flur und wusste nicht mehr, wohin. Hannelore sah es. Ron auch. Aber keiner sprach es aus.

Bis zu jenem Abend, als Sammy sich im Schlaf einnässte.

Es war kein „Unfall“ mehr. Es war ein Zeichen.

Sie säuberten ihn gemeinsam. Ruhig. Ohne Worte. Dann saßen sie am Bett.

„Vielleicht ist es Zeit, mit dem Tierarzt zu reden“, sagte Ron leise.

„Noch nicht“, flüsterte Hannelore. „Er frisst noch. Er wedelt, wenn er uns hört. Er will leben.“

„Ich weiß.“

„Aber wenn… dann nicht allein. Und nicht in einer kalten Praxis.“

Ron legte die Hand auf ihre.

„Nie.“


Ein paar Tage später nahm sie einen Umschlag aus dem Briefkasten.

Absender: Pflegekasse Leipzig
Betreff: Einstufung in Pflegegrad 2 – Entscheidung

Hannelore öffnete ihn zögerlich.

Sehr geehrte Frau Bendixen,

nach Prüfung Ihres Antrags und des ärztlichen Gutachtens teilen wir Ihnen mit, dass Sie mit Wirkung zum 15. Mai in Pflegegrad 2 eingestuft wurden.

Ihnen stehen folgende Leistungen zu:
– Grundpflege durch einen ambulanten Dienst
– Entlastungsbetrag für haushaltsnahe Hilfen
– Pflegehilfsmittel zum Verbrauch

Wir wünschen Ihnen alles Gute.

Ihre Pflegekasse

Sie legte den Brief auf den Tisch. Stumm.

Dann sah sie zu Ron.

„Ich bin jetzt offiziell alt“, sagte sie.

Er nahm ihre Hand.

„Nein. Du bist jetzt offiziell nicht mehr allein.“


An diesem Abend blieben sie lange wach.

Sammy lag zwischen ihnen auf dem Sofa. Draußen rauschte der Regen. Im Radio sang jemand ein altes Lied, das sie beide kannten.

„Weißt du“, sagte Ron leise, „früher dachte ich, Sterben ist schwer. Aber eigentlich… ist das Leben manchmal viel schwerer.“

„Und trotzdem machen wir’s jeden Tag wieder“, flüsterte Hannelore.

„Vielleicht, weil wir’s noch können.“

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