Teil 6: Der Abschied, den man nicht will
Der Juni brachte Licht, aber keine Leichtigkeit.
Die Tage wurden länger, wärmer, heller – doch in der Wohnung von Hannelore Bendixen herrschte eine stille Sorge. Wie ein Nebel, der in den Ecken blieb, auch wenn die Fenster offen standen.
Sammy schlief mehr.
Er aß nur noch wenig, drehte den Kopf oft vom Napf weg. Seine Bewegungen waren langsamer geworden, zögerlicher, manchmal wirkte er abwesend – als würde er etwas suchen, das nur er sehen konnte.
Hannelore merkte es. Ron auch.
Aber keiner sprach es zuerst aus.
An einem Sonntagmorgen, gegen halb acht, fand sie ihn zitternd in der Küche. Sammy hatte versucht aufzustehen, war aber in seinem eigenen Körbchen hängengeblieben. Als sie ihn aufhob, fühlte er sich zu leicht an. Wie ein Kissen, das einmal voll gewesen war und jetzt nur noch Hülle war.
„Wir müssen drüber reden“, sagte Ron, als sie später am Tisch saßen.
Sie starrte in ihre Tasse. Der Tee war längst kalt.
„Ich weiß.“
„Er hat Schmerzen, Hanne.“
„Aber er sucht noch unsere Nähe.“
„Das heißt nicht, dass es ihm gut geht.“
Sie nickte. Ganz langsam. Tränen traten in ihre Augen, ohne zu fallen.
„Ich hatte gehofft, er stirbt einfach… hier. Im Schlaf. Ohne dass wir entscheiden müssen.“
Ron schwieg. Dann sagte er leise: „Aber genau das ist ja unsere Entscheidung. Dass er nicht leiden muss. Dass wir ihn nicht alleine lassen.“
Am Montag rief sie bei Dr. Hauff an.
Die Stimme der Sprechstundenhilfe war leise, als sie verstand, worum es ging.
„Wenn Sie möchten, kommt der Doktor zu Ihnen. Er macht das in Ausnahmefällen.“
„Bitte“, sagte Hannelore. „Nicht in der Praxis. Nicht auf dem Tisch.“
„Wir finden einen Termin. Vielleicht am Freitag.“
Sie legte auf. Ihre Hände zitterten. Nicht vom Zucker.
Ron trat hinter sie. Legte den Arm um ihre Schultern.
„Wir sind da. Bis zum letzten Moment.“
Die Woche verging wie unter Wasser.
Sie kochten Sam sein Lieblingsfutter – weiche Hühnerbrust, geriebene Karotte, ein Hauch Thymian. Er fraß langsam, mit kleinen Bissen. Aber er fraß.
Hannelore sang ihm vor. Die alten Lieder aus dem Kinderheim. Leise, gebrochen, manchmal kaum mehr als ein Summen.
Ron schlief auf der Matratze neben dem Körbchen. Wenn Sam unruhig wurde, legte er die Hand auf seinen Rücken. Das beruhigte ihn.
Und immer wieder dieser eine Gedanke:
Dürfen wir das?
Dürfen wir entscheiden, wann ein Leben endet?
Am Freitagmorgen stand die Sonne schräg über dem Garten. Die Vögel sangen, als wüssten sie nichts von dem, was geschehen sollte.
Hannelore hatte frische Decken aus dem Schrank geholt, den Lieblingskorb ans Fenster gestellt, alles still gemacht. Keine Radio, kein Telefon.
Um zehn Uhr klingelte es.
Dr. Hauff trat ein, langsam, mit gesenktem Blick. Er setzte sich neben Sammy, streichelte ihn, hörte sein Herz ab, tastete die Gelenke.
„Er ist sehr schwach“, sagte er. „Aber er spürt euch. Noch.“
„Und… wie läuft es ab?“ fragte Ron leise.
„Zwei Spritzen. Erst eine, damit er einschläft. Dann… wenn er tief schläft… die letzte.“
Hannelore nickte. Ihre Lippen zitterten.
„Bitte… lassen Sie uns noch ein paar Minuten.“
Sie saßen zu dritt um den Korb.
Sammy hob einmal den Kopf, ganz leicht. Dann legte er ihn auf Hannelores Hand.
„Mein guter Junge“, flüsterte sie. „Mein Herz.“
Ron sagte nichts. Aber in seinen Augen lag alles: Dank, Schmerz, Trostlosigkeit.
Dann kam die erste Spritze.
Sammy atmete ruhig. Tiefer. Langsamer.
Hannelore streichelte seine Stirn. Ron hielt seine Pfote.
Und als Dr. Hauff sagte: „Jetzt“, da schloss sie die Augen.
Es war still.
So still, dass man das eigene Herz hörte. Und das eines anderen, das eben aufgehört hatte zu schlagen.
Der Tierarzt blieb noch kurz. Sagte, sie könnten alles regeln, wie sie wollten. Wenn sie Hilfe bräuchten – er wüsste jemanden für die Abholung, für eine Einäscherung.
Hannelore schüttelte den Kopf.
„Er bleibt bis zum Abend hier. Dann… dann sehen wir weiter.“
Dr. Hauff verbeugte sich leicht. Ein einfacher, ehrlicher Mann. Er verstand.
Am Nachmittag wickelten sie Sammy in ein Leinentuch. Hannelore hatte es aufbewahrt aus den Tagen, als ihre Mutter starb. Sie hatte damals gesagt: „Wickel mich ein wie ein Neugeborenes. Nur stiller.“
Sie legten ihn in einen alten Weidenkorb. Füllten ihn mit Lavendel. Ron holte etwas Erde aus dem Garten. Und Hannelore legte einen Zettel dazu. Handgeschrieben.
Danke.
Für alles, was du mir zurückgegeben hast.
Für die Stille, die nicht mehr leer war.
Für die Liebe, die wieder Mut geworden ist.
Am Abend kam Frau Köstner vorbei.
Sie wusste es schon. Hannelore hatte es ihr per SMS geschrieben.
Die Pflegerin trat leise ein, setzte sich an den Tisch, trank mit ihnen Tee.
„Ich habe ihn gemocht“, sagte sie. „Er hat mich manchmal erkannt. Nicht mit den Augen, aber mit dem Schwanz.“
„Er war unser Anker“, sagte Hannelore. „Und jetzt… weiß ich nicht, was wir sind.“
„Ihr seid“, sagte Frau Köstner ruhig. „Das reicht.“
Sie beerdigten ihn am nächsten Tag, im kleinen Garten.
Ron hatte ein Loch gegraben, unter dem Apfelbaum, den sie immer „den stummen Baum“ nannten, weil er nie Früchte trug.
Sammy passte genau hinein.
Sie legten ihm eine Decke mit hinein. Und den kleinen Plüschhund, den Hannelore mal aus dem Sozialamt mitgebracht hatte. Für ein Kind, das nie zurückkam.
Ron las einen Satz vor, den er aufgeschrieben hatte:
Manche gehen, ohne zu sehen – aber sie sehen mehr als alle anderen.
Dann schütteten sie Erde über ihn.
Und der Garten war still.
In der Nacht konnte Hannelore nicht schlafen.
Sie stand auf, ging barfuß zum Fenster. Draußen rauschte der Wind durch die Birken. Sie sah zum Apfelbaum. Und plötzlich, ganz klar, hatte sie das Gefühl, Sammy liege dort nicht allein.
Nicht als Verlust.
Sondern als Samen.