Ein Herz für Sammy | Sie wollte keinen Hund mehr – bis ein zitterndes Bündel ihr Herz zurückbrachte

Teil 9: Unerwarteter Besuch

Der Juli begann mit einem Brief.

Kein amtliches Schreiben, keine Werbung, kein Gruß von Maries Familie – sondern ein handgeschriebener Umschlag, schräg adressiert, mit krakeliger Tinte.
Ron fand ihn im Briefkasten, zwischen einer Apothekenzeitung und einem Prospekt für Treppenlifte.

„An Frau Hannelore Bendixen – persönlich“
Kein Absender. Keine Marke. Nur ein Stempel vom Leipziger Osten.

Hannelore öffnete ihn mit zitternden Fingern. Felix lag neben ihrem Stuhl, döste.
Drinnen: ein gefalteter Zettel, vergilbt, als wäre er schon lange geschrieben worden.

Sie las langsam.
Dann sah sie auf.
Ihre Lippen blass. Ihre Stimme kaum hörbar.

„Er hatte früher einen Namen. Und ein Zuhause.“


Der Brief war kurz.
Er stammte von einem Herrn namens Bernd Kasulke, wohnhaft in einem betreuten Wohnheim in Leipzig-Reudnitz.
Er schrieb:

Sehr geehrte Frau Bendixen,

vor zwei Wochen sagte man mir im Tierheim, dass ein älterer Hund mit grauem Fell, den ich vor Monaten aus Verzweiflung dort abgeben musste, von Ihnen aufgenommen wurde.

Ich weiß nicht, ob Sie ihn behalten möchten. Ich habe nichts mehr, was ihm gehört. Nur diesen Brief, den ich ihm damals geschrieben habe. Ich hatte ihn nie abgeschickt.

Ich bitte Sie nicht um Rückgabe. Ich weiß, dass ich nicht mehr für ihn sorgen kann. Aber vielleicht darf ich ihn einmal sehen.

Sein Name war früher „Bruno“.

Er war mein einziger Freund.

Mit traurigem Gruß
Bernd Kasulke


Sie saßen lange still.

Ron las den Brief erneut.
Dann sah er zu Felix – oder Bruno? –, der gerade ein altes Stofftier zwischen die Pfoten nahm und daran kaute.

„Was denkst du?“
Hannelore zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Ob das gut ist. Ob das hilft.“
„Für wen?“
„Für ihn. Für uns. Für den Hund.“

„Vielleicht für alle.“


Zwei Tage später machten sie sich auf den Weg.

Die Adresse war leicht zu finden – ein flacher, grauer Bau in der Nähe der Oststraße, mit schiefem Zaun und einer Bank vor dem Eingang.
Ein Pfleger empfing sie, jung, freundlich, barfüßig in weißen Crocs.

„Herr Kasulke freut sich sehr. Er hat kaum noch Besuch. War ganz nervös.“

Sie traten ein. Der Flur roch nach Mittagessen und Desinfektion.
Hannelore trug Felix auf dem Arm. Er zitterte leicht – mehr aus Unsicherheit als Angst.

Dann standen sie vor Tür 114.
Der Pfleger klopfte.
„Bernd? Besuch für dich.“


Bernd Kasulke war ein dünner Mann mit weißen Haaren und einem karierten Hemd, das an den Schultern zu weit war.
Er saß im Sessel, starrte aus dem Fenster.

Als sie eintraten, drehte er den Kopf.

Und Felix hob plötzlich den Kopf.
Schnüffelte in die Luft. Spannte sich.

„Bruno?“ hauchte der alte Mann.

Felix knurrte nicht. Biss nicht. Rührte sich nicht.
Aber seine Augen – sie suchten.
Langsam ging er auf den Mann zu. Ohne Leine. Ohne Befehl.

Und setzte sich vor ihn.
Wie früher, vielleicht.


Bernd beugte sich langsam vor.
Tränen standen in seinen Augen.
Er streckte die Hand aus, als würde er durch Glas greifen.

„Ich habe dich verloren“, flüsterte er.
„Es ging nicht mehr. Ich war krank. Und du… du hast gewartet. Ich weiß es.“

Felix – Bruno – legte den Kopf auf das Knie des Mannes.
Ganz still.

Hannelore trat einen Schritt zurück.
Sie sah Ron an. Und in seinem Blick lag derselbe Knoten wie in ihrem Herzen.


Sie blieben eine halbe Stunde.

Bernd sprach kaum. Streichelte den Hund, erzählte leise von früher – von Abenden auf dem Balkon, von gekochten Kartoffeln, von Regen auf dem Dachfenster.

Felix lag da. Wie verwandelt.
Nicht freudig. Nicht ängstlich.
Sondern ruhig.
Als hätte etwas in ihm wieder Platz gefunden.

Beim Gehen hielt Bernd Hannelores Hand.

„Danke“, sagte er.
„Ich wusste nicht, ob ich diesen Brief je abschicke. Ich hatte ihn jahrelang in der Schublade.“
„Ich bin froh, dass Sie es getan haben.“

„Er war mein letzter Freund.“


Im Bus zurück nach Lindenau saß Felix zwischen ihnen.
Ron streichelte sein Fell.

„Was machen wir jetzt?“
„Was meinst du?“

„Bruno. Felix. Der Name.“
„Er kann beide haben“, sagte Hannelore. „So wie wir unsere alten Leben auch behalten – und trotzdem ein neues beginnen.“

Ron nickte.
„Bruno für die Vergangenheit. Felix für das Jetzt.“


Am Abend, auf der Terrasse, stand die Sonne tief.
Der Apfelbaum rauschte leise im Wind.
Felix schlief im Gras.

Hannelore sagte:
„Weißt du, was mich am meisten berührt hat?“
„Was?“
„Dass der Mann nichts zurückhaben wollte. Nur sehen. Nur wissen, dass es weitergeht.“

„Das ist wahre Liebe“, sagte Ron. „Nicht festhalten – loslassen dürfen.“

Sie sahen sich an.
Dann blickten beide in den Garten.

Dort, wo Sammy lag.
Dort, wo Leben weiterging.

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