🐾 Teil 4: Zwischen Atemzügen
Es war kein Bellen. Kein Jaulen. Kein Klagen.
Der Laut, der an diesem Abend durch Katharinas Wohnzimmer glitt, war kaum mehr als ein Seufzen. Ein müder Hauch. Tessa hatte den Kopf gehoben, nur einen Moment, als wolle sie sich vergewissern, dass alles noch da war. Dann ließ sie ihn wieder sinken.
Katharina saß neben ihr auf dem Boden. Die Knie taten weh, die Schultern waren steif, aber sie rührte sich nicht. Ihre Hand lag auf Tessas Seite. Sie spürte das Fell, dünner geworden, und darunter das flache Heben und Senken der Brust.
Die beiden Welpen schliefen tief. Friso hatte sich quer über Tessas Vorderpfoten gelegt, Bente lag eingerollt wie ein Schneckenhaus, die Schnauze gegen den Bauch gedrückt.
Im Raum war es still. Keine Musik. Kein Fernseher. Nur der leichte Wind, der durch das Fenster strich, und das leise Ticken der Küchenuhr.
Katharina dachte an früher. An die Nächte, in denen sie an Pauls Bett saß, als die Krankheit ihm Stück für Stück die Sprache nahm. Auch da war jede Bewegung kostbar geworden. Jeder Laut ein Zeichen. Ein letzter Versuch, Verbindung zu halten, bevor alles still wurde.
Jetzt war es Tessa, die zwischen den Welten schwebte.
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Am nächsten Morgen war sie schwächer. Sie hob nicht mehr den Kopf. Aber wenn Katharina sie ansprach, bewegten sich die Ohren ein wenig. Ein winziges Zucken. Genug.
Frau Schröder kam vorbei. Sie trug einen selbstgestrickten Schal und hatte ein kleines Glas Leberwurst in der Tasche. „Für die Genesung“, sagte sie, auch wenn niemand wirklich daran glaubte.
Sie setzte sich auf den Stuhl am Fenster, sah den Hunden beim Schlafen zu. Ihre Finger strichen über die Kerbe im Holz der Fensterbank, die gleiche Stelle, an der Katharina als Kind mit einer Haarspange Muster eingeritzt hatte.
„Du erinnerst dich an den Sommer, in dem dein Vater fast den ganzen Hof neu verputzt hat?“, fragte sie plötzlich.
Katharina lächelte. „Und ich in der Schubkarre sitzen wollte, während er den Mörtel schob.“
„Und Tessa – die alte Tessa, nicht diese hier – hat dich von hinten angestupst, bis du rausgefallen bist.“
„Ich hab geweint wie ein Schlosshund.“
Frau Schröder nickte. „Und fünf Minuten später bist du wieder gerannt. Manche Kinder haben Herz wie Hunde.“
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Gegen Mittag kam Herr Schröder, brachte einen Korb mit Äpfeln und eine alte Wolldecke.
„Paul hat dir früher immer Quitten gebracht, erinnerst du dich?“, sagte er, ohne sie anzusehen.
„Die mit dem vielen Flaum. Ich musste sie stundenlang schälen“, sagte Katharina.
„Er wusste, dass du’s nicht mochtest. Hat’s aber trotzdem gemacht.“
Sie sah ihn an. „Weil er mich ärgern wollte?“
„Nein“, sagte Herr Schröder. „Weil du dann bei ihm in der Küche warst.“
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Die Tage vergingen langsam, wie dicker Honig. Tessa wurde nicht besser, aber auch nicht schlechter. Sie lag da, atmete flach, trank manchmal ein paar Tropfen Wasser, ließ sich streicheln.
Bente und Friso begannen, mehr Zeit im Garten zu verbringen. Sie jagten sich gegenseitig zwischen den Herbstblättern, bissen in Stöcke, rutschten auf dem Kies aus. Doch jeden Abend kehrten sie zurück, legten sich zu ihrer Mutter, als wüssten sie, wie kostbar Nähe war.
Katharina schlief nicht mehr im Schlafzimmer. Sie legte sich auf das Sofa, die Tür zum Wohnzimmer einen Spalt offen. Manchmal wachte sie nachts auf, ging hinein, setzte sich zu Tessa, flüsterte ihr leise Dinge zu, die sie Paul nie hatte sagen können.
Einmal sagte sie: „Ich war zu lange allein.“
Ein andermal: „Ich hab vergessen, wie sich Vertrauen anfühlt.“
Und Tessa, still wie immer, war einfach da.
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An einem grauen Dienstag stand plötzlich ein junges Paar vor der Tür. Sie fuhren einen alten VW-Bus, trugen Wanderschuhe und ein Baby in der Trage. Der Mann bestellte Suppe, die Frau ein Stück Apfelkuchen.
Als sie gehen wollten, fragte die Frau: „Ist das Ihre Hündin? Die da im Körbchen?“
Katharina erklärte, was passiert war. Ohne große Worte, nur das Nötigste.
Die Frau nickte langsam. „Sie sieht aus, als ob sie schon sehr weit gereist ist.“
„Ja“, sagte Katharina. „Aber ich glaube, sie ist angekommen.“
Bevor sie gingen, beugte sich die Frau kurz zu Tessa, streichelte ihr die Stirn. „Danke“, flüsterte sie. „Fürs Erinnern.“
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In der darauffolgenden Nacht träumte Katharina. Sie ging durch ein Kornfeld, barfuß, das Licht weich und golden. Neben ihr lief Tessa, nicht langsam, nicht krank. Schnell, stolz, mit wehenden Ohren. Am Horizont sah sie ein Tor, alt, verrostet. Dahinter eine Veranda, auf der Paul saß.
Er winkte nicht. Aber er sah sie.
Sie wachte mit Tränen in den Augen auf.
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Am Freitagmorgen regnete es. Ein leiser, gleichmäßiger Landregen, der das Dach sanft trommelte. Katharina stellte den Wassernapf auf, ging zum Fenster, zündete eine Kerze an.
Als sie sich umdrehte, war es stiller als sonst.
Tessa lag da, wie immer. Aber sie atmete nicht mehr.
Ihre Augen waren geschlossen. Ihre Schnauze ruhte auf dem Kissen. Die beiden Welpen lagen eng an sie gedrückt, noch im Schlaf.
Katharina ging langsam zu ihr, kniete sich hin, legte die Hand auf ihr Fell. Es war noch warm.
Sie sagte nichts. Keine großen Worte. Nur ein sanftes: „Danke.“
Dann saß sie da, stumm, bis der Regen aufhörte.
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Und während der Wind durch die Kastanie rauschte, wusste Katharina, dass etwas zu Ende ging und gleichzeitig etwas begann.