🐾 Teil 6: Der zweite Schatten
Es war früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang. Nebel lag schwer auf dem Hof, kroch zwischen Pflastersteinen und hüllte die alte Kastanie in ein graues Tuch. Katharina hatte gerade die Tür geöffnet, den Besen in der Hand, als sie es sah.
Ein Tier saß auf der Schwelle.
Sie hielt inne. Der erste Gedanke war: Friso? Aber nein, Friso lag noch tief schlafend auf seinem Kissen im Gastraum, der Rücken zuckte in einem Traum.
Das Tier hob den Kopf. Kein Bellen, kein Laut. Nur ein Blick, ruhig, wachsam, fast forschend.
Es war ein Hund. Aber keiner, den sie kannte.
Schmal gebaut, schwarz wie Ruß mit weißen Sprenkeln an den Pfoten. Das linke Ohr leicht geknickt, die Brust hoch. Ein Tier, das nicht von hier kam, und trotzdem wirkte, als gehöre es genau an diesen Ort.
Katharina trat näher, langsam, tastend.
„Na du? Wer bist du denn?“
Der Hund wich nicht zurück. Auch nicht vor ihrer Stimme. Er stand einfach auf, schüttelte sich, und schnupperte vorsichtig in die Luft.
Dann setzte er sich wieder.
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Friso war der Erste, der ihn bemerkte. Als Katharina die Tür zum Gastraum öffnete, schoss er hinaus. Aber nicht mit einem Bellen oder Geknurre. Er blieb in einiger Entfernung stehen, stutzte, und senkte dann die Schnauze zum Boden.
Ein Erkennen. Kein Angriff.
Bente folgte kurze Zeit später. Sie war stürmischer, stellte sich dem Fremden direkt entgegen, die Rute steil erhoben. Aber auch sie bellte nicht. Nur ein leises Knurren, das schnell wieder verschwand.
Katharina ließ sie gewähren. Hunde klärten ihre Beziehungen auf ihre Weise.
Nach wenigen Minuten lagen alle drei im Hof. Nicht eng beieinander, aber auch nicht in Feindschaft. Der Neue drehte sich mehrmals um sich selbst, legte sich dann in eine Ecke, wo die Herbstsonne bald durch den Nebel brechen würde.
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Herr Schröder kam später vorbei, um ein Glas Quittengelee zu bringen. Er blieb stehen, als er den neuen Hund sah.
„Gehört der dir?“
„Seit heute früh“, sagte Katharina. „Oder besser gesagt: Er hat sich mich ausgesucht.“
Der alte Mann nickte langsam. „Die besten kommen so.“
„Er ist mager. Wahrscheinlich unterwegs gewesen. Aber er wirkt nicht verwahrlost.“
Herr Schröder sah dem Tier lange in die Augen. „Er ist noch nicht ganz angekommen.“
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Am Nachmittag badete Katharina ihn vorsichtig. Er ließ es über sich ergehen, zuckte nur einmal, als das warme Wasser seine Flanken berührte. Unter dem Schmutz kam glänzendes Fell zum Vorschein, schwarze Haut mit winzigen Narben.
Katharina fragte sich, wer ihn zurückgelassen hatte. Oder ob er selbst gegangen war.
Sie nannte ihn Bosco. Der Name kam ihr plötzlich, ohne viel Überlegung. Und er passte.
Bosco gewöhnte sich schnell ein. Er war kein Stürmer wie Bente, kein Träumer wie Friso. Er war Beobachter. Er schlief nahe an der Tür, fraß in ruhigem Tempo und bellte nie. Wenn Gäste kamen, blieb er auf Abstand, musterte sie, bevor er sich entschied, näherzutreten.
Manche mochten seine stille Art.
Ein älterer Herr mit Stock sagte: „Er erinnert mich an meinen Bruder. Hat auch nie viel geredet, aber immer gewusst, was los war.“
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Die Tage wurden kürzer. Das Licht weicher. Abends brannten Kerzen im Gastraum, und die Gäste kamen gern für einen Eintopf, ein Glas Apfelwein, und den Anblick der drei Hunde, die auf dem Teppich lagen.
Einmal fragte ein Kind: „Wer war der erste Hund?“
Katharina zeigte auf ein Bild an der Wand. Tessa, in Schwarzweiß, mit ihren Welpen auf dem Schoß. „Die Mutter von Bente und Friso. Sie war etwas Besonderes.“
„Und der da?“ Das Kind deutete auf Bosco.
Katharina lächelte. „Der kam, als wir dachten, niemand mehr käme.“
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Frau Schröder saß eines Nachmittags auf der Gartenbank. Sie hatte ein altes Buch auf dem Schoß, las aber nicht. Ihre Augen ruhten auf Bosco, der mit gesenktem Kopf dem Wind lauschte.
„Er hat etwas Unausgesprochenes“, sagte sie leise.
„Traurigkeit?“, fragte Katharina.
„Nein. Verantwortung.“
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An einem Sonntag kam ein junger Mann ins Gasthaus. Er war etwa dreißig, mit einer groben Lederjacke, den Blick suchend. Er bestellte nichts. Sah sich nur um.
Als er Bosco sah, hielt er inne.
„Dieser Hund…“
Katharina hob den Kopf. Friso und Bente lagen ruhig. Bosco war aufgestanden, stand jetzt reglos im Türrahmen.
„Kennen Sie ihn?“, fragte Katharina.
Der Mann trat näher. „Er sieht aus wie Nero. Mein Hund. Ist vor vier Monaten verschwunden. Beim Wandern. Er ist weggelaufen, hat sich erschreckt.“
Katharina sagte nichts.
Bosco oder Nero trat einen Schritt zurück. Kein Jaulen, kein Winseln. Nur ein klarer Blick. Fest. Fragend.
„Ich hab ihn überall gesucht“, sagte der Mann. Seine Stimme zitterte leicht. „Aber irgendwann… hab ich aufgegeben.“
Katharina sah zu Bosco. Der Hund sah nicht aus, als hätte er gefunden, was er gesucht hatte. Und doch er war hier.
„Vielleicht war er noch nicht fertig mit seiner Reise“, sagte sie.
Der Mann trat näher, hielt die Hand hin. Bosco schnupperte. Einen Moment lang schien es, als würde er sich nähern, als würde er erkennen.
Dann drehte er sich um und legte sich wieder in seine Ecke.
Der Mann trat einen Schritt zurück. Etwas sank in ihm zusammen.
„Er gehört jetzt euch“, sagte er leise. Dann ging er.
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Katharina stand lange draußen, sah ihm nach, während der Nebel sich über die Straße legte. Bosco war geblieben. Nicht, weil man ihn gerufen hatte. Sondern weil er es wollte.
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Doch in der Nacht, als alle schliefen, öffnete sich die Tür im Flur mit einem kaum hörbaren Klicken und Bosco war verschwunden.