🐾 Teil 7: Die Nachtwanderung
Als Katharina erwachte, war es noch dunkel. Irgendetwas hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Kein Geräusch, sondern ein Gefühl.
Sie schob die Decke zurück, setzte sich auf. Der Wind rüttelte sanft an den Fensterläden. Alles war still.
Zu still.
Sie stand auf, ging barfuß in den Flur. Die Tür zum Innenhof war einen Spalt offen. Die Klinke kalt, die Luft dahinter feucht.
„Bosco?“, flüsterte sie.
Keine Antwort.
Im Gastraum schliefen Bente und Friso nebeneinander, ihre Körper bewegten sich ruhig im Takt des Atems. Bosco war nicht bei ihnen.
Katharina zog sich einen Mantel über, schlüpfte in ihre Stiefel und trat hinaus. Der Kies unter ihren Sohlen war nass vom Morgentau. Am Himmel zeichnete sich das erste fahle Licht ab.
Sie wusste nicht, wohin sie ging. Ihre Füße entschieden.
—
Sie folgte der kleinen Straße Richtung Ortsrand. Dort, wo die alten Weinberge begannen, schlängelte sich ein schmaler Pfad bergauf. Paul hatte ihn früher „den Atemweg“ genannt, weil man oben stehen musste und erstmal Luft holen musste.
Katharina ging langsam, ihre Augen suchten den Boden, die Büsche, die Schatten.
In der Ferne heulte ein Fuchs.
Dann sah sie ihn.
Auf dem Kamm des Hügels stand Bosco. Schwarz gegen das violette Morgenlicht. Er drehte den Kopf, sah sie, rührte sich aber nicht.
Katharina blieb stehen. „Was machst du hier?“
Langsam kam er ihr entgegen. Nicht hastig, nicht ängstlich. Ruhig. Als hätte er auf sie gewartet.
Als er sie erreichte, setzte er sich hin. Atmete tief durch.
Katharina setzte sich neben ihn auf den feuchten Boden. Der Nebel schob sich über das Tal wie ein Tuch. Die Lichter von Ettenheim glommen schwach.
Sie sagte nichts. Auch Bosco schwieg.
Aber etwas zwischen ihnen war klar.
Er hatte sich vergewissert, dass der Ort noch da war. Dass die Verbindung hielt. Dann war er bereit, zurückzukehren.
—
Als sie zurück ins Gasthaus kamen, dämmerte es bereits. Friso sprang ihnen entgegen, Bente wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Alle drei Hunde berührten sich mit den Nasen, liefen kreisförmig umeinander, dann legten sie sich erschöpft ins Körbchen.
Katharina kochte Tee, setzte sich ans Fenster.
Der Tag hatte noch nicht richtig begonnen, und doch fühlte er sich abgeschlossen an.
—
In den folgenden Tagen wich Bosco kaum von ihrer Seite. Er schlief im Gastraum, begleitete sie in die Küche, lag vor der Haustür, wenn Gäste kamen. Es war, als hätte er seinen Platz gefunden. Nicht nur räumlich, sondern innerlich.
Die Leute spürten das. Sie redeten mit ihm wie mit einem alten Freund. Manche streichelten ihn im Vorbeigehen, andere setzten sich einfach still in seine Nähe.
Einmal sagte eine Frau: „Man fühlt sich besser, wenn er da ist. Als würde er etwas von einem tragen.“
Katharina verstand. Bosco war kein Hund, der kam, um unterhalten zu werden. Er kam, um da zu sein. Um zu halten.
—
Eines Tages kam ein Brief.
Er war von der Gemeinde. Jemand hatte vorgeschlagen, das Gasthaus „Fellfreunde“ als besonderen Ort in die Liste regionaler Begegnungsstätten aufzunehmen. Für Mensch und Tier. Als Beispiel für gelebte Nachbarschaft.
Katharina las den Brief zweimal. Dann faltete sie ihn langsam zusammen und legte ihn neben das Bild von Tessa.
Sie sagte nichts. Aber sie streichelte Bosco über den Kopf.
—
Im Herbst wurde es ruhiger. Die Gäste blieben länger sitzen, tranken Tee statt Bier. Der Wind blies feiner, aber beständiger.
Katharina bastelte kleine Schilder für den Gastraum. „Frisos Platz“, „Bentes Decke“, „Boscos Ecke“. Die Besucher lächelten. Manchmal setzten sie sich daneben.
Ein alter Herr brachte eine Dose Leberwurst. Eine junge Frau strickte eine Mütze mit Hundepfotenmuster und ließ sie als Dankeschön da.
Der Hof wurde zu einem Ort der Geschichten.
Und die Hunde waren die Zuhörer.
—
An einem Nachmittag kam ein Bus mit Senioren. Sie machten eine Landtour, wie es im Prospekt hieß. Der Fahrer hatte von Katharinas Gasthaus gehört und rief vorher an.
Als sie kamen, war alles vorbereitet. Kürbissuppe, Apfelstrudel, Kaffee.
Die Gäste setzten sich an die langen Holztische. Manche lachten, manche waren still, manche wirkten verloren.
Und dann kam Bosco.
Er ging ruhig von Tisch zu Tisch, schnüffelte, ließ sich streicheln, legte manchmal seinen Kopf auf einen Schoß.
Eine Frau mit silbergrauen Haaren weinte. Sie sagte: „Er sieht aus wie mein Charlie. Der vor zwanzig Jahren eingeschläfert wurde.“
Katharina kniete sich zu ihr. Sie sagte: „Vielleicht ist er nur gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie’s richtig gemacht haben.“
Die Frau lächelte durch die Tränen.
—
Am Abend, als der Bus wieder abgefahren war und die Tische leer, saßen Katharina und die Schröders draußen im Hof.
„Ich hab heute etwas begriffen“, sagte Katharina.
„Was denn?“, fragte Herr Schröder.
„Dass man nicht immer verstehen muss, warum etwas passiert. Manchmal reicht es, dass es passiert.“
Frau Schröder nickte. „Du hast einen guten Ort geschaffen. Nicht nur für Hunde.“
—
Im Dunkel, kurz bevor Katharina die Tür schloss, sah sie, wie Bosco im Mondlicht auf dem Grab unter der Kastanie saß. Still, mit erhobenem Kopf.
Er hielt Wache. Oder betete. Oder vielleicht erinnerte er sich nur.
—
Am nächsten Morgen stand ein Mädchen mit rotem Rucksack vor dem Tor und fragte, ob die Hunde zu verschenken seien.