Ein Napf voller Erinnerung | Sie wollte nur den Hund füttern doch was sie fand, war ihre Vergangenheit

🐾 Teil 8: Rucksackmädchen

Es war ein klarer Morgen, die Luft kalt genug, dass der Atem sichtbar wurde. Katharina hatte gerade das Fenster zur Straße hin geöffnet, als sie das Mädchen sah. Sie war vielleicht zwölf oder dreizehn, trug einen roten Rucksack, eine zu große Wollmütze und Turnschuhe, die bessere Tage gesehen hatten.

Sie stand einfach da, vor dem Tor, und beobachtete den Hof.

Katharina trat hinaus. „Kann ich dir helfen?“

Das Mädchen drehte sich langsam um. Ihre Augen waren hellgrau, fast silbern. Die Stimme kam zögerlich.

„Sind die Hunde zu verschenken?“

Katharina stockte. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie sagen sollte.

Bente kam neugierig näher, die Rute wedelnd. Friso blieb auf Abstand. Bosco stand hinter Katharina, ruhig, wachsam.

„Wie heißt du?“, fragte Katharina.

„Lina.“

„Woher kommst du?“

„Von da hinten.“ Sie deutete die Straße hinunter. „Wir sind gerade erst hierhergezogen. Mama arbeitet im Pflegeheim. Ich bin oft allein.“

Katharina sah sie an. Nicht misstrauisch. Nur aufmerksam. Die Art von Aufmerksamkeit, die sie bei Tessa gelernt hatte.

„Die Hunde gehören zur Familie. Aber du kannst gern herkommen, wann du willst.“

Lina nickte. Ganz leicht nur. Dann trat sie durch das Tor, setzte sich auf die Bank unter der Kastanie.

Bente legte den Kopf auf ihren Schoß. Friso kam näher. Und Bosco blieb, wo er war – doch sein Blick war weich.

Von da an kam Lina fast jeden Tag.

Nach der Schule, mit dem Rucksack, manchmal mit einem Buch, manchmal nur mit einem Apfel. Sie sprach nicht viel. Aber sie war da.

Die Hunde mochten sie. Vor allem Bente, die sich oft zu ihr legte, während Lina leise vorlas. Friso war verspielter, forderte sie zum Laufen auf. Und Bosco saß daneben, wie ein stiller Schatten.

Katharina beobachtete das mit einem leisen Lächeln. Es war, als ob die Lücke, die Tessa hinterlassen hatte, sich nicht geschlossen, sondern gewandelt hatte. Von Trauer in Wärme.

Eines Nachmittags saß Lina länger als sonst.

Der Himmel war grau, der Wind frisch. Die Blätter fielen in langsamen Spiralen.

Katharina brachte ihr eine Tasse heiße Milch mit Honig.

Lina nahm sie dankbar entgegen. „Bei uns ist’s kalt“, sagte sie leise.

„In der Wohnung?“

Lina nickte.

„Mama sagt, wir müssen sparen. Für den Winter.“

Katharina setzte sich zu ihr. Die Hunde lagen verstreut im Hof, halb schlafend, halb wachsam.

„Willst du öfter hier sein? Auch mal zum Mittagessen?“

„Darf ich das?“

„Natürlich. Wenn du magst, kannst du auch mithelfen.“

Lina lächelte. Das erste Mal.

In den Wochen danach wurde Lina fast Teil des Hauses.

Sie half beim Gemüseputzen, deckte Tische ein, strich Körbchen aus. Manchmal fegte sie den Hof oder spielte im Garten mit den Hunden. Die Gäste kannten sie schnell beim Namen.

„Sie gehört dazu“, sagte Frau Schröder eines Abends. „Wie die alten Stühle. Oder der Kachelofen.“

Katharina nickte. Und doch war da etwas, das sie beschäftigte.

Lina sprach nie vom Vater. Nie von Freunden. Nie von Wünschen.

Sie war da. Und gleichzeitig nicht ganz.

Eines Tages kam Lina später als sonst.

Ihre Mütze fehlte, die Wangen waren rot vom Wind. In ihren Augen glänzten Tränen.

Sie setzte sich schweigend an den Rand des Hofs, zog Bente an sich. Katharina ließ sie. Keine Fragen.

Erst am Abend, als der Gastraum leer war und der Kamin brannte, setzte sich Lina an den großen Tisch. Bosco lag ihr zu Füßen.

„Sie hat gesagt, wir ziehen vielleicht wieder weg.“

Katharina legte das Messer beiseite. „Deine Mama?“

Lina nickte. „Weil sie nur Nachtschichten bekommt. Und dann hat sie mich kaum noch gesehen. Sie meint, es ist besser, wieder zu Oma zu gehen.“

„Und was willst du?“

Lina sah sie an. „Ich will hierbleiben.“

In dieser Nacht konnte Katharina kaum schlafen.

Sie dachte an Paul. An den Tag, als er ihr sagte, dass er nicht mehr reisen könne. Dass er bleiben wolle. Für sie. Für das Haus. Für das, was sie aufgebaut hatten.

Sie dachte an Tessa. An den Moment, als sie sich entschied, zu bleiben. Nicht, weil jemand sie gerufen hatte. Sondern weil es sich richtig anfühlte.

Am Morgen schrieb Katharina einen Brief. Kein langer. Nur eine Seite.

Dann ging sie zum Pflegeheim.

Linas Mutter war überrascht. Müde, höflich, vorsichtig.

„Ich weiß, es ist nicht meine Aufgabe, mich einzumischen“, sagte Katharina. „Aber ich glaube, Ihre Tochter hat hier etwas gefunden, das man nicht oft findet.“

Die Frau schwieg. Ihre Augen wurden weich. Dann las sie den Brief.

Und sie sagte: „Vielleicht sollten wir es versuchen. Noch ein paar Monate.“

Als Katharina zurückkam, wartete Lina im Hof. Sie saß auf der Bank, Bosco an ihrer Seite.

„Hab ich was falsch gemacht?“, fragte sie.

Katharina setzte sich. „Nein. Ganz im Gegenteil.“

Lina sah sie an. Hoffnung, vorsichtig, wie ein Licht hinter einem Vorhang.

„Du darfst bleiben.“

Lina sagte nichts. Aber ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Und dann umarmte sie Katharina. Nicht lang. Nicht fest. Aber ehrlich.

Und in dieser Umarmung spürte Katharina, dass das Gasthaus nun wirklich wieder ein Zuhause war für mehr als nur vier Pfoten.

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