🐾 Teil 9: Herbstlicht
Der Oktober verging langsam. Die Blätter färbten sich rostrot, die Kastanie ließ jeden Morgen ein paar Früchte auf den Hof fallen. Die Hunde schnupperten daran, manchmal schoben sie sie mit der Nase vor sich her, als wären es kleine Schätze.
Lina war nun ganz selbstverständlich Teil des Gasthauses geworden. Sie kannte die Namen der Stammgäste, wusste, wie viele Löffel Salz in die Suppe gehörten, und legte jeden Morgen frisches Wasser in die Näpfe der Hunde.
Friso folgte ihr auf Schritt und Tritt. Bente war verspielter geworden. Und Bosco war immer noch der stille Wächter, der erste, der merkte, wenn jemand traurig war.
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An einem kühlen Freitagabend saß Lina am Fenster und starrte hinaus in den Nebel. Katharina räumte die letzten Gläser vom Tisch, warf ab und zu einen Blick zu dem Mädchen.
„Du bist heute still.“
Lina zuckte mit den Schultern. „Ich hab nur nachgedacht.“
„Worüber?“
„Ob Hunde eigentlich wissen, dass sie uns retten.“
Katharina hielt inne. Ihre Hände ruhten auf dem warmen Holz des Tresens.
„Ich glaube, sie spüren es. Vielleicht nicht so wie wir, mit Worten. Aber mit dem Herzen.“
Lina schwieg. Dann sah sie Katharina an.
„Ich glaube, Tessa hat dich gerettet.“
Katharina lächelte. „Und mich erinnert.“
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Der nächste Tag brachte Sonne, klar und golden wie Honig. Die Schröders kamen zu Besuch, mit einem Glas eingemachter Pflaumen und einem Stapel alter Zeitungen.
„Es wird kalt“, sagte Frau Schröder. „Zeit für Decken und Geschichten.“
Sie setzten sich in den Hof. Die Hunde dösten in der Sonne. Herr Schröder erzählte von seiner Jugend, von Pferdewagen und Schallplatten, von einer Zeit, in der man sich Briefe statt Nachrichten schrieb.
Lina hörte aufmerksam zu, wie jemand, der wusste, dass Geschichten verschwinden können.
Als es zu dämmern begann, sagte Frau Schröder: „Es ist gut, dass du hier bist, Lina.“
Das Mädchen sah überrascht auf.
„Du erinnerst mich daran, wie es ist, jung zu sein und trotzdem schon viel zu wissen.“
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Einige Tage später entdeckte Katharina Lina im Garten. Sie saß unter dem Apfelbaum, ein altes Heft auf den Knien. Darin waren Zeichnungen: Bosco auf der Bank, Friso beim Spielen, Bente mit einer Kastanie im Maul.
„Du zeichnest?“
Lina nickte. „Nicht gut. Aber es hilft.“
„Wobei?“
„Dinge zu behalten.“
Katharina setzte sich zu ihr.
„Ich habe Paul früher Briefe geschrieben“, sagte sie. „Er war oft unterwegs. Ich wollte nicht, dass er vergisst, was wir hier haben.“
„Hat er sie gelesen?“
„Alle. Und als er krank wurde, hab ich sie ihm vorgelesen.“
Lina sah auf ihr Heft. „Vielleicht schreib ich auch mal was über hier. Über dich. Über die Hunde. Damit ich’s nicht verliere.“
Katharina sagte leise: „Man verliert nur, was man nicht im Herzen trägt.“
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Im November wurde es früher dunkel. Die Gäste blieben seltener zum Abendessen, kamen aber morgens für heißen Kakao und frisches Brot.
Einmal stand ein alter Mann mit Gehstock vor dem Fenster. Er schaute lange hinein, kam aber nicht herein. Bosco stellte sich neben Katharina, beide sahen zu.
„Kennst du ihn?“, fragte Lina.
„Nein“, sagte Katharina. „Aber er wirkt, als ob er jemanden vermisst.“
„Vielleicht sucht er einen Ort.“
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Einige Tage später schickte die Gemeinde einen Brief. Der Antrag, das Gasthaus offiziell als Begegnungsstätte für Mensch und Tier anzuerkennen, war durch. Es sollte eine kleine Feier geben, mit Musik, Kaffee, vielleicht ein paar Artikeln in der Zeitung.
Katharina las den Brief laut vor, während Lina Marmelade auf frisch gebackene Brötchen strich.
„Feiern wir das?“, fragte das Mädchen.
„Wenn du möchtest.“
„Dann malen wir neue Schilder. Und du musst die Geschichte von Tessa erzählen. Von Anfang an.“
Katharina sah sie lange an. Dann nickte sie.
„Aber nur, wenn du mir hilfst.“
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Die Tage davor waren erfüllt von Vorbereitungen. Lina bemalte Holzschilder mit Pfotenabdrücken, schrieb mit krakeliger Schrift: „Herzlich willkommen auch mit Schnauze“.
Frau Schröder buk Apfelkuchen, Herr Schröder brachte eine alte Geige mit. Friso versuchte, an den Tischtüchern zu ziehen, und Bente kläffte begeistert, sobald jemand eine Kiste trug.
Bosco lag mitten im Hof. Nicht im Weg, aber sichtbar. Als Zeichen. Als Einladung.
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Am Tag der Feier kamen mehr Menschen, als Katharina erwartet hatte. Manche aus dem Ort, manche aus Nachbardörfern. Eine Frau mit einem Cockerspaniel, ein Mann mit einem Rollator und Dackel, ein junges Paar mit Baby und Labrador.
Es war laut, bunt, lebendig.
Lina führte die Gäste herum, zeigte ihnen die Plätze der Hunde, erzählte vom Apfelbaum, vom Grab unter der Kastanie. Sie sprach ruhig, aber klar, mit einer Sicherheit, die neu war.
Katharina stand am Rand, sah zu. Tränen stiegen ihr in die Augen, ohne Trauer. Es war Rührung. Stolz. Und ein bisschen Erstaunen.
Sie hatte nichts geplant. Nur gegeben, was sie hatte.
Und nun wuchs daraus etwas Größeres.
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Später am Abend, als die Gäste gingen, der Himmel schon dunkel war und die Lichter im Hof warm leuchteten, setzten sich Katharina und Lina auf die Bank.
„Weißt du noch“, sagte Lina, „als ich fragte, ob die Hunde zu verschenken sind?“
„Ja“, sagte Katharina.
„Jetzt weiß ich, dass sie niemandem gehören. Aber dass sie trotzdem geben.“
„Was denn?“
Lina überlegte kurz. Dann sagte sie: „Zugehörigkeit.“
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Und in diesem Moment fiel die erste Schneeflocke, langsam, leise, mitten in den Kreis der drei ruhenden Hunde.