🐾 Teil 10: Wenn Schnee fällt
Der erste Schnee kam früh in diesem Jahr. Zuerst nur vereinzelt, kaum mehr als tanzende Staubkörner in der Luft. Dann dichter, langsamer, fast feierlich.
Katharina stand am Fenster und sah hinaus auf den Hof. Die Kastanie war nun kahl, ihre Äste zeichneten schwarze Linien in den Himmel. Auf dem Grab unter dem Baum lag eine dünne, makellose Schicht Schnee.
Bente jagte einer Schneeflocke hinterher, sprang hoch, verfehlte sie, lachte oder so klang es. Friso wälzte sich im frischen Weiß. Bosco saß, wie immer, ruhig. Beobachtend.
Im Gastraum duftete es nach Zimt und geröstetem Brot. Lina stand in der Küche, die Ärmel hochgekrempelt, die Haare zu einem lockeren Zopf gebunden. Sie hatte gelernt, wie man Hefeteig macht. Heute backten sie kleine Brötchen in Knochenform für die vierbeinigen Gäste.
Es war Weihnachten in wenigen Tagen. Und das Gasthaus war voller Leben.
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Am Nachmittag kam ein Päckchen. Absender: unbekannt.
Katharina öffnete es vorsichtig. Darin lag ein gerahmtes Foto. Es zeigte Bosco, aufgenommen von hinten, wie er unter dem Apfelbaum saß, den Blick in die Ferne gerichtet. Darunter, in schlichter Handschrift:
„Manche Hunde finden dich. Manche erinnern dich. Manche bleiben.“
Kein Brief. Kein Name. Nur das Bild.
Katharina stellte es auf das kleine Wandregal über Tessas Körbchen, das sie nie weggeräumt hatte.
„Danke“, flüsterte sie.
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Die Tage wurden kürzer. Morgens lag Raureif auf dem Zaun, die Hunde hinterließen klare Spuren im Schnee. Gäste kamen mit Mützen, Schals, manchmal mit Geschenken für Lina oder Leckerli für die Tiere.
Eines Morgens kam eine Frau mit Rollkoffer. Sie war vielleicht sechzig, hatte eine Reisetasche dabei und trug einen langen, olivgrünen Mantel.
Sie bat um ein Zimmer für drei Nächte. Katharina hatte eigentlich geschlossen, aber etwas in den Augen der Frau sagte ihr, dass es nötig war.
Am Abend saß die Fremde still im Gastraum, trank Tee, streichelte Friso, der sich an ihre Füße gelegt hatte.
Sie sagte nicht viel. Aber als sie ging, am dritten Tag, ließ sie einen Brief da.
Darin stand nur:
„Ich habe meinen Hund vor Jahren gehen lassen. Heute habe ich zum ersten Mal wieder das Gefühl, dass er nicht ganz weg ist. Danke für diesen Ort.“
Katharina faltete den Brief langsam zusammen und legte ihn zu den anderen, in ihre alte Holzschublade.
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An Heiligabend war es still. Kein Betrieb, keine Gäste. Nur die Schröders kamen vorbei, mit einem alten Korb voller Gebäck und einem Lächeln, das sich über Jahre gekämpft hatte.
Sie saßen zusammen am Ofen. Lina las eine Geschichte vor, ihre Stimme weich, warm, ganz bei sich. Die Hunde lagen eng aneinander, Bosco in der Mitte.
Als sie fertig war, war es für einen Moment ganz still.
Dann sagte Herr Schröder: „Weißt du noch, wie still es früher war?“
Frau Schröder nickte. „Und wie leer.“
Katharina legte ihre Hand auf Linas Schulter.
„Jetzt ist es still – aber nicht leer.“
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Im neuen Jahr kam ein Brief vom Verlag. Jemand hatte von Lina gehört, von ihren Zeichnungen, ihren Texten. Eine kleine Sammlung über das Gasthaus, über die Hunde, über einen Ort, an dem man sich erinnern konnte.
Katharina sah Lina an. „Willst du das wirklich?“
Lina nickte. „Ich glaube, es ist Zeit, etwas zurückzugeben.“
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Im Frühling kam ein Journalist aus Freiburg, machte Fotos, stellte Fragen, schrieb auf, was Katharina gar nicht mehr in Worte fassen konnte.
Am Ende fragte er: „Was ist dieses Haus für Sie?“
Sie dachte lange nach.
Dann sagte sie: „Ein Ort, an dem Erinnerung nicht nur weh tut. Sondern wärmt.“
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Die Kastanie trieb wieder aus. Die alten Blätter wurden vom Wind fortgetragen, neue sprossen hervor. Die Hunde tobten durchs Gras, fanden Maulwurfshügel, schnüffelten nach dem Regen.
Einmal lief Lina lachend durch den Garten, ein Strick aus Leckerli in der Hand, Bente direkt hinter ihr. Friso folgte mit wedelndem Schwanz, und Bosco trottete als Letzter, als wolle er auf alle aufpassen.
Katharina stand an der Tür, eine Schürze umgebunden, das Gesicht in der Sonne.
Sie dachte an Paul. An Tessa. An den ersten Tag, an dem ein magerer, stiller Hund vor ihrem Gasthaus saß.
Ein Napf voll Erinnerung, hatte er mitgebracht. Und aus diesem Napf war ein ganzes Leben gewachsen.
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Und als der Abend kam, und drei Schatten friedlich unter der Kastanie ruhten, wusste Katharina: Manche Wege führen nach Hause auch wenn sie ganz woanders beginnen.