Ein Platz unter dem Apfelbaum | Als der Hund ging, blühte der Baum – und niemand wusste, wer den Brief schrieb

Teil 4: Was zurückbleibt

Der Morgen war hell, aber kühl. Eine dieser typischen Frühherbststunden, in denen die Welt stiller scheint als sonst. Nebel lag wie ein leichtes Tuch über dem Garten, der Apfelbaum war schwer von Tau. Und unter ihm – lag Frieda.

Nicht mehr schlafend.

Nicht mehr atmend.

Nur noch da. Wie eine letzte Erinnerung, geformt aus Fell und Wärme und Stille.

Margarete hatte den Körper der Hündin mit der alten Decke aus dem Flur zugedeckt, die mit dem grün-blauen Muster. Franz hatte sie einmal „Heuwolke“ genannt. Jetzt lag sie glatt über dem kräftigen Körper, als würde sie etwas bewahren, das längst schon nicht mehr im Irdischen war.

Die Kinder kamen am Vormittag. Erst Nele, dann Hanna, dann auch der Junge mit den Sommersprossen. Keiner weinte. Sie sahen hin, legten kleine Dinge ab – ein Apfel, eine Zeichnung, ein Hundeknochen aus Gummi. Und dann gingen sie wieder. Keine Worte. Kein Aufheben.

Als wüssten sie: Frieda war schon woanders.

Margarete trank Tee auf der Bank. Ihre Hände zitterten nicht mehr. Es war diese merkwürdige Ruhe nach einem langen Sturm. Kein Schock. Keine Panik. Nur eine leere, offene Fläche in ihr, die sie nicht benennen konnte.

Sie dachte an den Brief. An Jakob. An den Raben.

Und daran, was sie nun tun musste.

Am Nachmittag kam Frau Simic wieder. Mit Gummistiefeln, einem Spaten und zwei alten Äpfeln in der Schürze.

„Ich helf dir“, sagte sie nur.

Sie redeten nicht darüber. Über das Wo, das Wie. Es war klar. Zwischen zwei Birken, links neben dem Apfelbaum, hatte Franz schon vor Jahren für den alten Dackel einen Platz gemacht. Daneben war Platz geblieben – nicht aus Planung, sondern aus Gefühl. Jetzt wurde er gebraucht.

Die Erde war schwer, aber nicht hart. Ein feuchter, würziger Geruch stieg auf, vermischt mit Laub und Erinnerung. Margarete hob jede Schaufel mit Bedacht. Als sie fertig waren, setzten sie Frieda behutsam hinein – in der Decke, mit dem Glöckchen am Halsband.

Margarete legte den Stern aus Papier auf das Bündel.

„Der gehört ihr.“

Dann schaufelten sie zu. Langsam. Ohne Eile. Ein letzter Dienst.

Nachher saßen sie lange nebeneinander. Die Erde war noch frisch, ein Hügel, leicht schräg zum Hang hin. Die Kinder hatten Blumen gebracht. Und der Junge mit den Sommersprossen – wie hieß er überhaupt? – hatte eine kleine Schiefertafel aufgestellt. Darauf stand mit Kreide:

„Hier liegt die beste Hündin der Welt.
Sie hat nicht gebellt. Nur verstanden.“

Margarete musste lächeln. Genau das war Frieda gewesen.

Nachts konnte sie nicht schlafen.

Immer wieder sah sie aus dem Fenster. Der Apfelbaum war im Dunkeln nur noch ein Schatten. Aber über dem Grab glomm etwas – kaum sichtbar, eher wie ein Gefühl als ein Licht. Margarete schüttelte den Kopf. Sie war müde. Ihr Geist spielte ihr Streiche.

Oder auch nicht.

In der Dämmerung ging sie in den Garten, barfuß, mit der Wolldecke über den Schultern. Und da war es wieder: ein silberner Faden, diesmal am unteren Ast, fast auf Augenhöhe.

Daran hing ein drittes Papierobjekt.

Kein Stern. Kein Bild.

Ein kleiner Umschlag. Dunkelgrün. Mit Goldpunkten.

Sie nahm ihn ab, vorsichtig, fast ehrfürchtig. Kein Name diesmal. Nur ein Duft: Lindenhonig und Heu.

Drinnen lag ein Blatt, gefaltet, aber diesmal in anderer Handschrift.

„Sie hat den Weg gefunden.

Es war Licht. Und Wind. Und Stille.

Die Katze hat sie ein Stück weit begleitet.

Und dein Franz wartet mit dem Stock in der Hand.

Du darfst jetzt auch ruhen. Noch nicht gehen. Aber ruhen.“

Margarete las es zweimal. Dann faltete sie das Blatt wieder, sehr langsam. Ihre Hände zitterten doch wieder. Aber anders. Nicht aus Alter, nicht aus Schwäche.

Sondern weil in ihr etwas aufbrach, das sie lange vergessen hatte: Trost.

Sie hatte nie an so etwas geglaubt – Botschaften, Zeichen, Dinge aus anderen Sphären. Aber dies war kein Glaube mehr. Es war Gewissheit.

Sie wusste, Frieda war angekommen.

In den Tagen danach wurde der Garten anders. Nicht leerer. Nur stiller. Friedas Platz blieb frei. Niemand setzte sich dorthin. Die Katze kam noch ein paarmal. Doch irgendwann blieb auch sie fort.

Die Kinder kamen seltener. Einige nahmen ihre Bilder mit. Andere hingen neue auf – Erinnerungen, kleine Danksagungen, Herzen mit Namen.

Und Margarete begann wieder zu lesen.

Sie saß am Fenster, trank Tee, öffnete Bücher, die nach altem Papier rochen. Manchmal lächelte sie, manchmal schloss sie die Augen und hörte einfach nur dem Wind zu, wie er durch die Äste ging.

Doch dann, eine Woche nach Friedas Abschied, geschah etwas, das alles veränderte.

Ein Brief kam mit der Post. Kein Absender. Keine Marke. Nur ihr Name, handgeschrieben.

Als sie ihn öffnete, fiel ein Foto heraus.

Darauf: ein kleiner Berner Sennenwelpe. In einem Zwinger. Schwarzweißes Fell. Kulleraugen.

Dahinter: eine Adresse. Handschriftlich.

Tierhilfe Wendland,
Pappelweg 4,
29439 Lüchow.

Mehr nicht.

Margarete starrte auf das Bild.

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