Teil 5: Die Adresse am Ende des Briefes
Margarete hielt das Foto in der Hand, als könnte es sich auflösen, wenn sie blinzelte. Der Welpe darauf blickte direkt in die Kamera – oder nein, nicht in die Kamera, sondern in sie hinein. So wirkte es. Sein Blick war weich, dunkel, neugierig. Und voller Hoffnung.
Ihr erster Impuls war Ablehnung. Ein Welpe? Jetzt? Nach Frieda?
„Ich bin vierundsiebzig“, sagte sie halblaut in die Küche. Der Wasserkocher klickte, das alte Radio rauschte.
Aber da war die Adresse.
Pappelweg 4. Lüchow.
Sie kannte Lüchow. Ein Stück nördlich, hinter der Elbe. Sie war dort mal mit Franz gewesen, als es noch Flohmärkte in der alten Mühle gab. Das war über zwanzig Jahre her.
Der Gedanke ließ sie nicht los.
Am Nachmittag ging sie in den Garten. Der Apfelbaum war still. Die Blätter begannen zu fallen. Über Friedas Grab lag Laub, rot und gelb, wie hingestreut vom Himmel selbst. Margarete bückte sich, strich es beiseite.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, sagte sie leise.
„Ich weiß nicht, ob ich soll.“
Keine Antwort natürlich. Nur der Wind, der die letzten Kinderbilder leise bewegte.
Aber in ihr war etwas in Bewegung geraten.
Am nächsten Morgen stand sie früh auf. Zog die festen Schuhe an. Nahm den dicken Mantel vom Haken. Nicht den alten von Franz – das wäre zu viel gewesen. Sondern den grauen, mit den großen Knöpfen.
Sie packte den Brief, das Foto, etwas Wasser und einen Apfel in ihre Tasche. Dann stieg sie in den Bus nach Lüneburg. Von dort nahm sie einen Regionalzug bis Dannenberg, und ein Taxi für den letzten Abschnitt.
Pappelweg 4 lag am Rand von Lüchow, hinter einem alten Sportplatz. Ein einfaches Grundstück, nichts Besonderes. Aber sauber. Am Zaun stand ein kleines Holzschild:
„Tierhilfe Wendland – nach Vereinbarung“
Margarete drückte das Tor auf. Ein Hund bellte irgendwo im Hintergrund. In einem Nebengebäude öffnete sich eine Tür.
Eine Frau trat heraus. Mittleren Alters, wettergegerbtes Gesicht, energischer Gang. Sie trug Gummistiefel und eine Wachshose. Ihre grauen Haare waren zum Knoten gebunden.
„Sie sind wegen dem Welpen“, sagte sie, als hätte sie keinen Zweifel.
Margarete stockte.
„Ich… ich weiß nicht, ob ich wirklich…“
Die Frau lächelte. „Er wartet schon.“
Ohne weitere Worte führte sie Margarete in einen Seitenraum. Eine kleine, helle Kammer mit Holzfußboden. Drinnen: ein Körbchen, eine Decke, zwei Schalen. Und in der Mitte – der Welpe.
Nicht größer als ein Schuhkarton. Schwarz, mit weißen Pfoten und einem hellen Fleck über dem rechten Auge. Er sah auf. Neugierig. Wach.
Dann geschah etwas, das Margarete nicht erwartet hatte.
Er tappte auf sie zu. Langsam. Unsicher. Und setzte sich vor ihre Füße. Sah sie an. Und hob dann eine einzige Pfote – ganz vorsichtig. Nicht wie ein Spiel. Sondern wie eine Frage.
Margarete kniete sich nieder. Ihr Knie knackte, sie spürte es im Rücken. Aber sie beugte sich trotzdem vor und legte ihre Hand auf seinen Kopf.
Ein Zittern ging durch ihren Körper. Nicht vom Alter. Sondern von Erinnerung. Die Bewegung war ihr vertraut. Der Geruch. Das Gewicht. Nicht von diesem Welpen – von Frieda. Und von allen Tieren, die einmal durch ihr Leben gegangen waren.
Sie musste sich setzen.
Die Frau trat näher.
„Sein Name ist noch offen“, sagte sie.
„Er wurde ausgesetzt. Wir wissen nicht viel. Nur, dass er unglaublich ruhig ist. Und… sensibel.“
Margarete nickte langsam.
„Ich… ich habe vor Kurzem eine Hündin verloren.“
„Das weiß er“, sagte die Frau schlicht.
Wieder dieser Moment des Unglaublichen, der sich nicht erklären, nur empfinden ließ.
„Ich bin nicht mehr jung“, flüsterte Margarete.
„Er braucht keine Jugend. Er braucht Nähe.“
Sie wussten beide, was das bedeutete. Kein zehnjähriges Versprechen. Kein Abenteuer. Kein Gehorsamstraining. Nur ein Stück gemeinsamer Weg. Ein Reststück. Vielleicht ein letztes.
Margarete blieb noch eine Stunde. Saß einfach da. Der Welpe schlief irgendwann mit dem Kopf auf ihrem Schuh ein. Sie bewegte sich nicht.
Als sie ging, trug sie ihn in einem alten Korb.
Der Weg nach Hause war lang. Doch sie fühlte ihn kaum.
Am Gartentor hielt sie inne.
Es war später Nachmittag. Die Sonne hing tief. Über Friedas Grab flatterte ein neues Bild im Wind. Kein Kind hatte es aufgehängt. Es zeigte einen Hund – nicht Frieda. Einen kleinen, mit weißen Pfoten.
Darunter stand in krakeliger Schrift:
„Ein neuer Anfang ist kein Verrat.
Er ist Erinnerung mit offenen Augen.“
Margarete schluckte.
Sie setzte den Korb unter den Apfelbaum. Der Welpe kroch heraus. Blinzelte in das Licht. Beschnüffelte die Erde. Und dann – ganz ohne Aufforderung – legte er sich an exakt denselben Platz, an dem Frieda all die Wochen gelegen hatte.
Margarete setzte sich daneben. Ihre Hände ruhten in ihrem Schoß.
Und da, im letzten Licht des Tages, begann sie zu sprechen. Leise. Langsam. Von Frieda. Von Franz. Vom ersten Schnee und den letzten Kirschen. Vom alten Flur, vom Tiergeruch im Haus, vom Raben, vom Stern.
Der Welpe hob ab und zu den Kopf. Hörte. Nicht wie ein Tier. Sondern wie ein Vertrauter.
Und Margarete wusste: Er verstand.