Teil 6: Namen, die sich von selbst finden
Der Welpe blieb einfach dort liegen. Unter dem Apfelbaum, neben Friedas Grab, zwischen Blättern und späten Äpfeln. Als hätte er nie woanders geschlafen. Als hätte er alles gewusst. Von Anfang an.
Margarete nannte ihn zunächst nur „Du“.
„Na komm, Du“, wenn er beim Füttern zögerte.
„Nicht dorthin, Du“, wenn er versuchte, auf den Teppich zu pinkeln.
„Gut gemacht, Du“, wenn er nachts durchhielt oder den Futternapf leer schleckte.
Er hatte etwas Uraltes in seinem Blick. Obwohl seine Pfoten noch zu groß waren für seinen Körper, obwohl seine Ohren beim Laufen flatterten wie winzige Segel. Er war noch tapsig. Aber in seinen Augen lag etwas, das sie an Frieda erinnerte. Und auch nicht. Es war neu und vertraut zugleich. Wie ein altes Lied in neuer Sprache.
Margarete stellte sein Körbchen erst ins Wohnzimmer. Doch er schlief nur dann tief, wenn sie es unter das Küchenfenster rückte – genau an die Stelle, an der das Licht am Nachmittag schräg hereinfiel. Dort konnte er hinaus auf den Garten sehen. Auf den Baum. Auf das Grab.
Eines Morgens, als sie die Teekanne ausspülte, sagte sie:
„Du bist ein leiser Kerl. So wie Franz es war.“
Und dann – wie von selbst – sagte sie:
„Vielleicht heißt du einfach Franz.“
Der Welpe hob den Kopf. Blinzelte. Dann streckte er sich lang aus, die Vorderpfoten weit vor, das Hinterteil in die Luft gereckt. Und gähnte.
Margarete musste lächeln.
„Na gut“, sagte sie.
„Franz also.“
Der Name blieb.
Sie gewöhnte sich schnell daran, mit ihm zu sprechen. Nicht wie man mit einem Tier redet. Sondern wie mit einem Mitbewohner. Sie las ihm Abschnitte aus der Zeitung vor. Kommentierte die Fernsehbilder. Manchmal erzählte sie ihm von alten Dingen, von der Praxis, von dem Tag, an dem sie und der erste Franz geheiratet hatten – mitten im Januar, bei minus vierzehn Grad.
Und er hörte zu. Er bellte nie. Wimmerte nie. Aber er war da. Immer.
Einmal, als sie in den Garten trat und das Grab von Frieda betrachtete, kam er hinter ihr her. Er schnupperte kurz. Dann setzte er sich hin. Und bellte. Ein einziger Ton. Kurz. Klar. In die Stille hinein.
Es war, als hätte er etwas begrüßt.
Vielleicht die Erinnerung. Vielleicht mehr.
An diesem Abend fand sie ein neues Bild im Baum.
Kein Kind war zu sehen gewesen.
Das Bild war aus festem Papier, mit Aquarell gemalt. Es zeigte Frieda – neben einem jungen Hund mit weißen Pfoten. Sie lagen nebeneinander auf einer Wiese. Und über ihnen ein goldener Himmel, in dem kleine Sterne hingen wie Blüten.
Margarete nahm es ab. Drehte es um.
Hinten stand nur ein Wort:
„Einverstanden.“
Sie hängte es nicht zurück. Sie stellte es auf den Kaminsims, zwischen die alten Fotografien. Es passte dorthin. So, als hätte es dort immer gestanden.
Franz – der kleine – begann, den Garten zu erkunden.
Er sprang den Laubhaufen hinter dem Kompost an, jagte im Kreis um die Regentonne und versuchte, den Raben zu fangen, der ihn stets mit einem nasalen „Kraah“ verspottete. Er holte Stöckchen. Aber nie die, die Margarete warf. Er suchte sich eigene. Immer etwas krumm, etwas besonders.
Einmal brachte er ihr einen kleinen Apfel.
Zerbissen, dreckig, aber stolz in die Küche getragen.
Sie nahm ihn, legte ihn auf den Tisch.
„Das ist kein Geschenk“, sagte sie streng.
„Das ist Schmiererei.“
Aber sie wischte ihn sauber. Und ließ ihn dort liegen. Vier Tage lang.
Sie ging wieder öfter ins Dorf. In den kleinen Laden am Kirchplatz. In die Postfiliale. Und sogar zur Lesung im Gemeindehaus, wo eine ältere Dame aus Hitzacker Gedichte über das Älterwerden vortrug. Margarete nahm Franz mit. Er saß still neben ihrem Stuhl, rührte sich nicht. Viele schauten ihn an. Einige fragten, ob das Friedas Nachfolger sei.
Margarete sagte:
„Nein. Friedas Fortsetzung.“
Und dann, Ende Oktober, kam ein Sturm.
Nicht schlimm. Kein Orkan. Aber genug, um Äste vom Apfelbaum zu fegen, Blätter in Schüben über den Garten zu treiben. Margarete ließ das Fenster einen Spalt auf. Der Wind brachte den Geruch von feuchter Erde, von Rinde, von altem Laub.
Franz schlief auf seinem Platz am Fenster.
Und plötzlich, im Abendlicht, sah sie es:
Ein neuer Umschlag.
Im Geäst. An fast derselben Stelle wie der erste.
Sie nahm die Taschenlampe, zog die Jacke über und ging hinaus. Das Licht flackerte. Der Regen hatte gerade aufgehört. Der Boden war weich. Ihre Schuhe sanken leicht ein.
Sie streckte sich, fasste den Umschlag. Wieder ohne Adresse. Ohne Namen.
Drinnen: ein kleiner Zettel. Kein Brief. Nur ein Satz:
„Wenn der Apfel fällt, beginnt das nächste Jahr.“
Und darunter: eine winzige Zeichnung. Ein Herz. Mit zwei Pfoten darin.
Margarete stand lange dort.
Sie wusste nicht, von wem das kam. Ob es jemand aus dem Dorf war. Ein Kind. Jemand, der Frieda gekannt hatte. Oder etwas anderes. Sie wusste nur: Es war nicht zu Ende. Nicht die Geschichte. Nicht das Wunder.
Sie steckte den Zettel ein.
Am nächsten Morgen lag ein Apfel auf dem Grab.
Ein einzelner. Rund. Ohne Makel.
Und Franz lag daneben. Ganz ruhig.
Mit dem Kopf auf der Erde. Und den Augen geschlossen.