Teil 7: Wenn die Stille zittert
Franz lag still neben dem Grab. Der Kopf auf der Erde, der kleine Körper eingerollt, wie in einen Gedanken. Margarete hielt den Atem an, als sie ihn sah. Einen Moment lang glaubte sie, es sei wieder so weit. Zu früh. Zu ähnlich. Zu schnell.
Sie kniete sich neben ihn.
„Franz?“
Er zuckte nicht.
„Franz, mein Junge.“
Ihre Stimme war fest, nicht laut. Wie ein Signal.
Da bewegte sich ein Ohr.
Dann hob er den Kopf, langsam. Blinzelte. Und gähnte – lang, übertrieben, mit dem leisen Quietschen, das sie inzwischen kannte.
„Du Schlingel“, murmelte sie. Ihre Hand glitt über sein Fell.
„Du willst mich prüfen, was?“
Er drückte die Nase gegen ihre Handfläche. Und blieb dann ruhig liegen. Ganz nah bei der Erde, ganz nah bei Frieda.
Margarete verstand.
Er war nicht krank. Nicht müde. Nicht traurig.
Er hörte zu.
Vielleicht auf etwas, das sie nicht hören konnte.
Vielleicht auf Schritte, die nicht auf Wegen gingen.
Später, beim Abendtee, saß sie mit ihrem alten Tagebuch am Küchentisch. Ein dicker Band mit Ledereinband, kaum noch Platz für neue Einträge. Sie blätterte zurück in den Herbst vor acht Jahren. Der Herbst, in dem Franz – der erste – starb. Und Frieda nicht fraß, zwei Wochen lang. Auch damals war das Laub früh gefallen. Auch damals war ein Apfel vom Baum gefallen, der keine Würmer hatte.
Sie schlug eine neue Seite auf.
„Franz II. – stiller Wächter.
Heute: der Apfel auf dem Grab.
Botschaft oder Zufall?
Und was bedeutet dieser Satz vom Zettel?“
Sie schrieb langsam. Ihre Hand war nicht mehr so sicher. Die Buchstaben schwankten, wie Boote auf einem alten See. Aber sie hielt den Stift. Und das reichte.
Am nächsten Tag ging sie zum Tierarzt.
Nicht weil Franz krank war. Sondern weil es richtig war.
Die Praxis war neu besetzt – ein junger Mann, Dr. Roth, knapp vierzig, mit Bart, Jeans und einer Stimme, die beruhigte. Franz ließ alles über sich ergehen: die Waage, die Ohrenkontrolle, den Impfpass, den Blick ins Maul. Kein Bellen. Kein Zappeln.
„Ein sehr ruhiger Welpe“, sagte Dr. Roth.
Margarete nickte.
„Er hört Dinge. Und er versteht Dinge, die man nicht laut sagt.“
Der Arzt lächelte höflich. Vielleicht glaubte er ihr. Vielleicht nicht. Es war ihr egal.
Er gab ihr Futterempfehlungen mit, und den Hinweis, bald mit dem Training zu beginnen. „Nicht zu viel Geduld. Hunde brauchen klare Linien.“
Sie nickte wieder. Aber sie wusste, Franz war anders. Kein Hund für Regeln. Kein Hund für Sitz und Platz. Sondern für Nähe. Für Stille. Für Übergänge.
In der folgenden Woche schien die Zeit zu frieren.
Die Tage wurden kürzer, die Schatten länger. Franz begleitete sie überallhin – in den Laden, zum Friedhof, sogar zur Bank. Die Menschen im Dorf kannten ihn inzwischen. Manche grüßten ihn. Andere erzählten Geschichten von Frieda.
„Sie war wie ein Stein in der Landschaft“, sagte Herr Wulff, der frühere Schmied.
„Unverrückbar. Still. Und wärmer, als man’s erwartet hätte.“
Margarete schrieb das auf.
Ein Satz wie aus Bronze gegossen.
Dann, an einem Donnerstagmorgen, geschah etwas, das sie erschütterte.
Franz bellte. Nicht laut. Aber mit einer Dringlichkeit, die sie noch nie gehört hatte.
Er stand am Fenster. Der Blick starr hinaus. Das Fell aufgestellt. Der Körper gespannt wie ein Bogen.
Sie trat hinzu.
Und sah – einen fremden Mann.
Er stand auf dem Gehweg vor dem Garten. Dunkler Mantel. Koffer in der Hand. Kein Nachbar. Kein Besucher, den sie erwartete. Er wirkte… aus der Zeit gefallen. Wie jemand aus einem Schwarzweißfoto. Vielleicht fünfzig. Vielleicht siebzig. Schwer zu sagen.
Als sie die Tür öffnete, drehte er sich langsam zu ihr.
„Frau Brennicke?“
Sie nickte, vorsichtig.
„Ja. Und Sie sind?“
„Mein Name ist Klemens Berghoff. Ich… ich glaube, ich habe einen Brief von Ihrem Mann bekommen.“
Stille.
Nur der Wind raschelte im Apfelbaum.
„Von Franz? Von meinem… toten Mann?“
„Ja“, sagte er leise.
„Vor sechs Tagen. In einem Buch, das ich aus einem Antiquariat in Magdeburg gekauft habe. Zwischen zwei Seiten. Handschriftlich. Ihr Name. Ihre Adresse. Und die Bitte, mich hierher zu begeben. Heute. Zu Fuß. Ohne Anruf.“
Margarete lehnte sich an die Tür.
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Ich bin kein Spinner. Ich bin Bibliothekar. Oder war es. Ich sammle alte Bücher. Und ich finde Dinge in ihnen, die nicht mehr gefunden werden sollten.“
Er griff in die Manteltasche. Zog einen Brief hervor. Altes Papier. Die Handschrift… Franz.
Margarete nahm ihn mit zitternden Fingern.
Drinnen:
„Wenn Klemens dies liest, dann ist die Zeit reif.
Geh zu ihr. Du wirst wissen, was du tun musst.
Und sie wird es auch.Sag Franz, er möge das Laub hüten.
Ich danke dir. – F.“
Margarete spürte, wie der Boden unter ihr vibrierte.
„Kommen Sie rein“, sagte sie nur.
Franz – der kleine – wich keinen Zentimeter. Er saß vor Klemens, sah ihm tief in die Augen. Kein Knurren. Kein Schwanzwedeln. Nur ein Blick, der Fragen stellte.
Und dann legte er sich hin.
Wie ein Wächter, der einen Platz freigibt.