Ein Platz unter dem Apfelbaum | Als der Hund ging, blühte der Baum – und niemand wusste, wer den Brief schrieb

Teil 8: Der Mann mit dem Brief

Klemens Berghoff saß nun am Küchentisch, die Hände gefaltet, als hätte er Angst, sich zu bewegen. Seine Augen wanderten durch den Raum, über die Uhr an der Wand, das Teeservice, den kleinen Kamin. Er sprach wenig. Aber seine Gegenwart füllte den Raum wie ein altes Lied, das man nicht kannte und trotzdem mitsummte.

Margarete stellte Tee auf den Tisch. Ihre Hände waren ruhig. Aber innen… war es wie damals, als sie erfuhr, dass Franz krank war: ein leichter Nebel hinter den Rippen, schwer zu greifen.

„Was genau stand in dem Brief?“ fragte sie schließlich.

Klemens zog das vergilbte Papier aus der Manteltasche. Er hatte es mehrfach gefaltet, aber sorgsam. Margarete strich es glatt.

„Lieber Klemens,

wenn du diesen Brief findest, ist vieles schon getan. Doch etwas fehlt noch. Etwas Altes, das zwischen den Zeiten liegt.

Ich habe Schuld auf mich geladen. In den Jahren nach dem Krieg. Eine Entscheidung, die nicht mir gehörte – aber ich habe geschwiegen. Und einer hat gelitten.

Du kennst ihn.

Geh zu Gretl. Zeig ihr das Bild. Und hör auf den Hund.“

– F.

Margarete starrte auf die Zeilen.
„Nach dem Krieg? Franz hat nie… Er hat nie von Schuld gesprochen. Nie von Entscheidungen.“

Klemens holte einen zweiten Umschlag hervor.

Drin lag ein Foto.

Ein altes, verblasstes Bild. Zwei Jungen. Vielleicht sechzehn, siebzehn Jahre alt. Einer war Franz. Der andere – ein schmaler, ernster Bursche mit zusammengekniffenem Mund.

Auf der Rückseite stand:

„Ich. Und Rudi.
1946. Lager Dänemark.“

Margarete zog die Luft ein.

„Er hat nie erzählt, dass er in Dänemark war.“

Klemens nickte.

„Ich auch nicht. Aber ich war Bibliothekar in Lüneburg, bevor ich pensioniert wurde. Und ich habe eine Sammlung jüdischer Exilliteratur betreut. In einem Band von Else Lasker-Schüler fand ich eine Notiz. Von einem gewissen Rudi B. – geschrieben 1952. Voller Bitterkeit. Über einen Verrat. Von einem Franz Brennicke. Wegen eines Hundes.“

Margarete schüttelte den Kopf.
„Das ergibt keinen Sinn.“

Klemens’ Stimme wurde leiser.

„Ich glaube, dein Mann war als junger Mann in einem Lager für Vertriebene. Und Rudi hatte dort einen Hund – einen ausgemergelten Mischling, der ihn nach dem Tod der Eltern begleitete. Franz war damals Sanitätshelfer. Vielleicht hat er geschwiegen, als der Hund getötet werden sollte. Vielleicht war es mehr.“

Stille.

Margarete stand auf. Ging zum Fenster. Draußen saß Franz – der kleine – unter dem Apfelbaum. Die Ohren hoch, der Blick wachsam.

„Aber was will Franz… also mein Mann… jetzt von uns? Warum dieser Mann? Warum du?“

„Vielleicht wollte er, dass du weißt: Auch er hatte seine Schatten. Und vielleicht ist Franz – der Hund – ein Teil davon. Eine letzte Brücke. Oder ein Bote.“

Margarete trat hinaus. Barfuß. Der Boden war kalt. Sie ging langsam zum Grab. Der Apfelbaum raschelte.

Franz sah sie an. Dann – zum ersten Mal – stand er auf, scharrte mit der Pfote im Laub. Ganz sanft. Und dort, wo er gescharrt hatte, lag etwas.

Ein alter Schlüssel.

Margarete hob ihn auf.

Sie kannte ihn.

Er gehörte zur Truhe auf dem Dachboden. Eine Kiste, die Franz nie geöffnet hatte. Nicht seit sie zusammenzogen. Sie war immer verschlossen gewesen, mit einem Vorhängeschloss, rostig, vergessen.

Zehn Minuten später standen sie oben im Dachstuhl.

Margarete steckte den Schlüssel ins Schloss. Es klickte. Der Deckel quietschte.

Drinnen: alte Briefe, Fotos, ein Heft mit rotem Einband. Und ganz unten – eine Hundemarke. Abgenutzt. Eingraviert:

„Milo – DP-Lager Flensburg“

Ein Name.

Ein Hund.

Ein Leben, das nicht gerettet wurde.

Margarete setzte sich auf die Bodenplanken. Der Staub tanzte im Licht.

„Er wollte, dass ich das sehe“, flüsterte sie.

Klemens nickte.

„Und ich glaube, er wollte, dass wir es zu Ende bringen.“

„Wie?“

„Indem wir Milo einen Platz geben. Hier.“

Sie verstand.

Noch in derselben Nacht legte sie einen zweiten Gedenkstein neben Friedas Grab. Kein Name. Nur ein Stein, glatt, rund, warm.

Am nächsten Morgen hing im Baum ein neues Bild.

Ein brauner Hund. Dünn, mit großen Ohren. Und daneben ein kleiner schwarzer – mit weißen Pfoten.

Darunter:
„Vergeben. Vergessen. Verbunden.“

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