Teil 9: Wo die Namen ruhen dürfen
In der ersten Novemberwoche fiel der erste Schnee. Kein dichter, nur eine zarte Decke, wie gepustertes Mehl auf dem Laub. Es war früher als sonst, und Margarete fragte sich, ob auch das ein Zeichen war. Ein Neuanfang im Weiß. Oder das leise Ende eines langen Satzes.
Franz – der kleine – machte seine ersten Erfahrungen mit Schnee: Er hüpfte, versank, schnupperte, erschrak vor seinem eigenen Atem. Und doch war auch darin etwas Bedächtiges. Er sprang nicht wie ein junger Wilder. Er prüfte, beobachtete, spürte.
Klemens blieb drei Tage im Gästezimmer.
Er half im Garten. Er schwieg beim Frühstück. Und er hörte sich Margaretes Erinnerungen an, ohne je nachzufragen, ohne zu bewerten. Es war, als wäre er dorthin gestellt worden – nicht als Gast, sondern als stiller Zeuge.
Am dritten Tag standen sie zusammen unter dem Apfelbaum. Franz saß zu ihren Füßen.
„Glaubst du, dass Hunde Dinge mit sich tragen, die wir nicht sehen?“ fragte Margarete.
Klemens nickte.
„Ich glaube, dass sie Dinge übernehmen, die wir nicht tragen können.“
Sie zeigte ihm die Bilder im Baum. Jedes einzelne hatte seine eigene Geschichte. Einige waren von Kindern, andere – da war sie sich sicher – von jemandem, der nie durch das Gartentor kam. Vielleicht von Franz selbst. Oder von einem alten Freund.
Sie blieben lange draußen. Der Wind trug feinen Schnee durch die Zweige, und irgendwann fiel ein Apfel. Ein einziger. Spät, fast trotzig. Er schlug weich im Laub auf. Franz hob den Kopf. Sah Margarete an.
Sie nickte.
Am Abend, als sie das Kaminfeuer schürten, holte sie das alte Fotoalbum hervor. Auf den ersten Seiten war sie jung – schmal, lachend, mit geflochtenem Haar und verschrammten Knien. Dann Franz – der erste. Auf einem Motorroller, in Gummistiefeln, mit der Hand an einem Dackelbauch.
Klemens betrachtete die Bilder schweigend.
Als sie die letzte Seite aufschlug, fiel ein Zettel heraus. Sie erkannte sofort die Handschrift.
„Wenn du einmal zweifelst, Gretl,
denk daran: Ich habe nie nach dir gesucht.
Ich bin einfach stehen geblieben. Und du kamst.“
Darunter, in anderer Schrift – kleiner, schiefer – stand ein Wort:
„Danke.“
Sie faltete das Blatt. Legte es zurück.
Dann schaute sie zu Franz, der zusammengerollt im Korb lag. So leise, so selbstverständlich da.
„Ich glaube“, sagte sie, „er ist die Antwort auf eine Schuld, die nicht meine war. Aber ich trage sie mit – und er hilft mir, sie nicht zu verlieren.“
Klemens erwiderte nichts. Er legte nur seine Hand auf ihre – ganz kurz.
Am nächsten Morgen war er fort.
Kein Zettel, kein Abschied. Nur die Tasse, gespült in der Spüle. Und ein Stein. Glatt, schwarz, warm. Mit Kreide beschriftet: „Für Milo. Und das, was bleibt.“
Margarete legte ihn auf den zweiten Grabplatz.
Der Schnee war inzwischen dichter geworden. Die Kinder kamen seltener. Aber Nele kam. Sie brachte einen kleinen Anhänger – aus Silberpapier gebastelt. Ein Herz. Und sagte:
„Das ist für Frieda. Und für den Neuen.“
„Er heißt Franz“, sagte Margarete.
„So wie Ihr Mann?“
Margarete nickte.
„Aber anders.“
Nele dachte kurz nach.
„Dann ist er wie ein Wiedersehen mit neuen Pfoten.“
Margarete lächelte.
„Ja. Genau das.“
In der Nacht hörte sie Geräusche im Garten. Kein Tierlaut. Kein Wind. Etwas wie das Knirschen von Schritten. Sie stand auf, öffnete das Fenster.
Und sah: den Raben.
Er saß auf dem Ast, direkt über dem Grab. Der Schnee glitzerte auf seinem Gefieder. Er krächzte nicht. Er saß nur da.
Und in seinen Krallen – ein Streifen Papier.
Am Morgen lag er auf dem Fenstersims.
Darauf stand:
**„Wenn du bereit bist,
wird der Baum blühen.
Auch im Winter.“**
Sie verstand nicht. Noch nicht.
Aber sie wusste: Es ging dem Ende entgegen.
Und dem Anfang.
Am nächsten Tag schrieb sie in ihr Tagebuch:
**„Die Schuld hat einen Namen.
Der Hund hat ihn getragen.Jetzt tragen wir das Licht weiter.
In Bildern. In Pfoten.Und unter diesem Baum – darf alles ruhen.“**