Ein Platz unter dem Apfelbaum | Als der Hund ging, blühte der Baum – und niemand wusste, wer den Brief schrieb

Teil 10: Der letzte Apfel, der erste Schnee

Die Wochen vergingen. Der Winter kam mit leisen Schritten. Kein harter Frost, kein wilder Sturm – nur diese Kälte, die unter die Haut kroch und in die Stille hinein wuchs wie Moos auf alten Steinen.

Margarete lebte langsamer. Nicht müder – nur aufmerksamer. Jeder Tag hatte sein eigenes Gewicht, und manchmal spürte sie: Das Leben hatte sich verschoben. Nicht weg. Nicht vorbei. Aber in eine andere Richtung, in eine, die man nicht mit Uhren oder Kalendern messen konnte.

Franz war jetzt ihr ständiger Begleiter. Wenn sie ging, kam er mit. Wenn sie schwieg, schwieg er mit. Und wenn sie weinte – selten, aber ehrlich – legte er seine Schnauze auf ihren Schoß, ohne zu fragen. Ohne zu trösten. Nur um da zu sein.

Der Apfelbaum war längst kahl. Nur ein letzter Apfel hing noch, ganz oben, vom Wind vergessen. Er war klein und schrumpelig, doch Margarete hatte ihn nicht abgenommen. Sie ließ ihn hängen wie ein stilles Versprechen.

Es war der Morgen des 24. Dezember.

Margarete war früh wach. Etwas hatte sie geweckt, nicht laut, eher wie ein Licht, das sich in den Traum geschlichen hatte. Als sie aus dem Fenster sah, hielt sie den Atem an.

Der Apfelbaum blühte.

Nicht über und über. Nur zwei kleine Zweige, hoch oben in der Krone, trugen weiße Blüten. Zart, unwirklich, als hätten sie sich verirrt im Kalender. Und doch – sie waren da. Greifbar. Echt. Vom Raureif umrahmt, aber lebendig.

Franz bellte leise. Er stand schon an der Tür, als hätte er es geahnt.

Margarete zog den alten Mantel über, die dicken Schuhe, und ging mit ihm hinaus.

Der Garten war still. Schnee bedeckte das Grab von Frieda und Milo, aber nicht den Apfelbaum. Dort war der Boden frei – als hätte etwas ihn gewärmt von unten her. Und über der Erde: ein neuer Umschlag.

Er lag im Schnee, golden versiegelt. Keine Handschrift. Kein Name.

Sie öffnete ihn langsam.

Drin war ein einziges Blatt. Und darauf:

**„Wenn alles gesagt ist,
darf die Stille antworten.

Wenn alles verloren scheint,
darf etwas Neues wachsen.

Wenn ein Herz alt wird,
wird es nicht schwächer –
sondern weicher.

Und wenn du gehst,
wirst du empfangen werden.“**

Margarete faltete das Papier. Ihre Hände zitterten. Nicht vor Kälte.

Vor Ergriffenheit.

Sie setzte sich auf die Bank neben dem Baum. Franz legte sich zu ihren Füßen.

Und sie wusste: Alles war erfüllt.

Nicht alle Fragen beantwortet. Nicht jede Schuld getilgt. Aber das, was zwischen den Leben gelegen hatte – zwischen Franz, Frieda, Milo, Rudi, Klemens und ihr selbst – war nun ein Gewebe. Kein Knoten mehr. Sondern ein Muster.

Am Nachmittag kamen Kinder.

Nele, Hanna, Melike. Und der Junge mit den Sommersprossen. Jeder brachte etwas: einen Keks, ein selbstgemaltes Bild, ein getrocknetes Blatt in Herzform.

Sie hängten es in die unteren Zweige. Und zum ersten Mal fiel Margarete auf: Es war wieder ein richtiger Baum geworden. Kein Trauerbaum. Kein Denkmal. Sondern ein lebendiger Ort. Für das Jetzt.

Sie lud die Kinder ein. In die Küche. Es gab Tee, Zimtstangen, Rosinenbrot.

Franz lag mittendrin. Und ließ sich von kleinen Händen streicheln, ohne sich zu rühren.

Als die Dunkelheit kam, zündete Margarete eine Kerze an und stellte sie vorsichtig auf das Grab. Dann blieb sie noch lange stehen. Im Schnee. Zwischen den Blättern. Zwischen allem, was war.

Der Rabe kam wieder.

Er landete auf dem obersten Ast. Sah sie an. Und krächzte ein einziges Mal. Nicht rau. Nicht fordernd. Sondern weich. Wie ein Lächeln mit Flügeln.

Und dann – als der Wind auffrischte, als sich irgendwo in der Ferne eine Glocke verlor – fiel der letzte Apfel.

Langsam. Geradlinig. Lautlos.

Er landete direkt zwischen den beiden Gräbern.

Franz trottete hin, stupste ihn mit der Nase. Dann sah er zu Margarete – fragend.

„Nein, mein Junge“, sagte sie.
„Den behalten wir. Fürs nächste Frühjahr.“

Und als sie sich umdrehte, als sie zurückging ins Haus, wusste sie:

Dieser Baum würde wieder blühen.
Und sie würde da sein, um es zu sehen.

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