Ich habe keine Drogen in der Toilettenkabine gefunden. Ich fand ein Kind, das versuchte, die Scham mit kaltem Wasser aus seiner Jeans zu waschen, zitternd, so sehr, dass das Porzellanbecken klapperte.
Ich heiße Susanne. Ich bin 72 Jahre alt. Eigentlich sollte ich jetzt im Ruhestand sein, vielleicht in einem kleinen Schrebergarten sitzen und Kaffee trinken. Aber wir wissen alle, wie es ist: Die Rente ist knapp, die Miete steigt, und der Wocheneinkauf kostet gefühlt doppelt so viel wie früher. Also putze ich. Jeden Abend, wenn die Schüler der städtischen Gesamtschule nach Hause gehen, schiebe ich meinen gelben Wagen durch die leeren Flure.
Die Leute sehen die Putzfrau nicht. Ich bin wie ein Geist in einem grauen Kittel. Aber das ist das Ding, wenn man unsichtbar ist: Man sieht alles.
Ich sehe die Risse in unserer Gesellschaft. Ich sehe die Kinder, die mit den neuesten E-Bikes zur Schule kommen und Markenklamotten tragen. Und ich sehe die anderen. Die, die im Winter in dünnen Hoodies kommen, weil die Winterjacke vom letzten Jahr zu klein geworden ist. Die, die ihre Pfandflaschen sammeln, anstatt sie wegzuwerfen. Die, die den Kopf senken, aus Angst, dass ein einziges falsches Wort auf TikTok landet und sie zur Lachnummer der ganzen Schule macht.
Es war ein Dienstag im November. Draußen herrschte dieses typische deutsche Schmuddelwetter – grau, nass, kalt. Ich schob die Tür zur Mädchentoilette im ersten Stock auf und hörte dieses Schluchzen. Nicht dieses theatralische Weinen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Es war das leise, verzweifelte Würgen von jemandem, dessen Welt gerade zusammengebrochen ist.
Ich schaute unter der Kabinentür durch. Abgetretene Turnschuhe. Und ein dunkler Fleck auf den Fliesen.
Es war Leonie. Vielleicht fünfzehn. Sie saß auf dem Toilettendeckel, die Knie an die Brust gezogen. Der Spender für das Toilettenpapier war leer, und sie versuchte verzweifelt, diese harten, grauen Papierhandtücher zu falten.
Mein Herz zog sich zusammen. Ich kenne diese Panik. Drogerieartikel sind teuer geworden. Für manche Familien in Deutschland ist das keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern eine Rechenaufgabe: Abendbrot oder Hygieneartikel?
Ich sagte nichts. Scham verträgt kein Publikum. Ich wischte einfach laut den Rest des Raumes, damit sie wusste, dass ich da war, und stellte das gelbe „Achtung Rutschgefahr“-Schild vor die Tür, um uns Zeit zu verschaffen. Dann ging ich zu meinem Wagen, holte meine eigene Ersatzhose – eine einfache Jogginghose, die ich für Notfälle dabei habe – und eine Packung Binden aus meiner Tasche. Ich schob sie sanft unter der Tür durch.
„Kindchen“, sagte ich, meine Stimme war vom vielen Schweigen etwas rau. „Zieh das an. Den Rest entsorge ich. Geh einfach nach Hause.“
Ich hörte ein Schniefen, dann ein fast unhörbares: „Danke.“
Am nächsten Tag sah ich Leonie nicht. Aber das Bild ging mir nicht aus dem Kopf. Wie viele andere? In einem Land wie unserem, wo wir stolz auf unseren Wohlstand sind – wie viele fallen durch das Raster?
Am Ende des Flurs, vor dem Chemiesaal, gab es das Schließfach Nummer 104. Der Schließmechanismus war seit Jahren kaputt. Der Hausmeister hatte es wohl aufgegeben, und die Schulleitung hatte „kein Budget“ für die Reparatur. Es stand einfach immer einen Spalt offen.
An diesem Abend ging ich in den Discounter. Ich nahm 20 Euro von meinem Haushaltsgeld – Geld, das ich eigentlich für die nächste Stromnachzahlung beiseitegelegt hatte – und kaufte das Nötigste: Binden, Deo, Feuchttücher, Zahnpasta und ein paar Müsliriegel.
Ich legte alles in das Fach 104. Dazu schrieb ich auf eine Karteikarte: „Nimm, was du brauchst. Keine Fragen. Niemand schaut zu. Du bist nicht allein.“
In der ersten großen Pause war das Fach leer.
Zwei Tage später füllte ich es wieder auf. Ein paar warme Socken. Ein Kamm. Duschgel. Wieder war alles innerhalb einer Stunde weg.
Ich dachte, ich müsste das alleine weitermachen, jeden Cent zweimal umdrehen. Aber Kinder… Kinder sind aufmerksamer, als wir glauben.
Zwei Wochen später wollte ich das Fach kontrollieren. Es war nicht leer. Jemand hatte eine fast volle Flasche Shampoo hineingestellt. Daneben lag eine Tüte Brezeln vom Bäcker. Ein paar Probiergrößen Handcreme. Und ein Zettel, geschrieben mit Glitzerstift: „Wer kann, der gibt.“
Es löste eine Kettenreaktion aus. Wir nannten es „Das offene Fach“.
Es wurde zum Herzschlag des Flurs. Ich beobachtete es beim Wischen aus den Augenwinkeln. Ich sah den Kapitän der Fußballmannschaft, der sich kurz umsah und dann schnell eine Packung Deo und einen Apfel hineinlegte. Ich sah Mädchen, die sonst nur über Instagram redeten, wie sie unauffällig Haargummis und Lipgloss dort ließen.
Eines Morgens im Januar, es war bitterkalt, fand ich eine Winterjacke darin. Getragen, aber frisch gewaschen. Am Ärmel hing ein Zettel: „Passt mir nicht mehr. Hält aber warm.“ Eine Stunde später sah ich einen Jungen, der den ganzen Winter nur in einer Regenjacke zur Schule gekommen war, mit dieser Jacke den Flur entlanggehen. Er ging aufrechter.
Natürlich bleibt so etwas in Deutschland nicht lange unbemerkt. Wo Gutes passiert, ist die Bürokratie nicht weit.
Der Konrektor bekam Wind davon. Ein Mann, der Vorschriften mehr liebte als Menschen. Er marschierte den Flur entlang, den Hausmeister im Schlepptau. Er wollte Fach 104 versiegeln. „Brandschutzverordnung!“, rief er. „Das ist unzulässige Lagerung von brennbarem Material im Fluchtweg! Außerdem, wer haftet, wenn jemand allergisch auf die Nüsse im Riegel reagiert? Das ist ein Hygieneproblem!“
Er sammelte eine kleine Menge Schüler um sich. Er hielt einen Vortrag über Schulordnung und Versicherungsfragen. Er hob ein schweres Vorhängeschloss, um das Fach endgültig zu schließen.
„Lassen Sie das.“
Es war kein Lehrer, der sprach. Es war Leonie. Sie trat aus der Menge hervor. Sie zitterte, ihr Gesicht war rot. Aber sie stand da, fest wie eine Eiche. „Sie können das nicht zumachen“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Dieses Fach ist der Grund, warum ich mich heute in die Schule getraut habe.“
Dann eine andere Stimme. Ein Junge aus der letzten Reihe. „Ich habe mir dort ein Deo geholt, als mein Vater letzten Monat entlassen wurde und wir sparen mussten.“
„Ich habe dort Handschuhe gefunden.“ „Ich habe mir eine Zahnbürste genommen.“
Dutzende Kinder. Aus allen Schichten. Sie traten vor. Es war kein Aufstand, keine Randale. Es war eine stille Mauer der Solidarität. Sie schützten den einzigen Ort in der Schule, der keine Noten verlangte und nicht urteilte.
Der Konrektor ließ das Schloss sinken. Er sah in die Gesichter. Dann sah er in das rostige Metallfach mit den billigen Drogerieartikeln und den Müsliriegeln. Vielleicht sah er zum ersten Mal nicht Paragraphen, sondern Menschen. Er räusperte sich, sichtlich verlegen. „Nun ja,“ murmelte er und rückte seine Brille zurecht. „Solange der Fluchtweg… also… solange es ordentlich bleibt…“
Er drehte sich um und ging. Das Fach blieb offen.
Ich putze immer noch an der städtischen Gesamtschule. Mein Rücken schmerzt mehr als früher, und die Winter fühlen sich kälter an. Aber jeden Abend, wenn ich an Fach 104 vorbeikomme, halte ich inne. Es gehört jetzt ihnen.
Gestern sah ich Leonie wieder. Sie macht bald ihren Abschluss. Sie stand am Fach und erklärte einer Fünftklässlerin, die völlig verängstigt aussah, wie das „System“ funktioniert. Ich sah, wie Leonie dem Mädchen einen Schokoriegel zusteckte und flüsterte: „Alles gut. Wir passen hier aufeinander auf.“
Ich ging in meine Putzkammer, setzte mich auf einen Eimer und weinte kurz vor mich hin.
Wir leben in einer lauten Zeit. Wir schalten die Nachrichten ein und hören nur Streit. Wir fühlen uns klein und machtlos. Aber ich sage Ihnen eines, aus den stillen Fluren einer Schule um Mitternacht: Sie irren sich.
Man braucht keinen Regierungsbeschluss, um die Welt ein bisschen wärmer zu machen. Man muss nicht reich sein. Man muss nur hinsehen. Man muss den Menschen neben sich sehen. Die Nachbarin, deren Rollläden lange unten bleiben. Den Rentner, der im Supermarkt die Cent-Stücke zählt. Das Kind, das alleine auf der Bank sitzt.
Das Fach 104 hat mich gelehrt: Freundlichkeit ist ansteckend. Also, bitte. Wenn Sie das hier lesen: Warten Sie nicht auf Erlaubnis, um freundlich zu sein. Öffnen Sie einfach die Tür. Und denken Sie daran: Manchmal reicht ein Stück Seife und ein offenes Ohr, um ein Leben zu retten.
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