Ein Stück Seife, ein offenes Fach: Als Solidarität in der Schule begann

Drei Wochen nach dem Tag, an dem Leonie dem Konrektor das Vorhängeschloss aus der Hand geredet hatte, stand plötzlich ein Mann im dunklen Mantel vor Fach 104 und fragte nach „der Verantwortlichen“. Und ich wusste: Jetzt kommt der Moment, in dem Freundlichkeit sich beweisen muss.

Es war wieder Novembergrau, nur dass der Winter inzwischen Zähne zeigte. Die Heizkörper im Flur klackerten müde, als würden sie selbst sparen wollen, und die Luft roch nach nassen Jacken und Kreide.

Der Mann stellte sich als jemand von einer Kontrolle vor, so einer, der nicht böse guckt, aber auch nicht lächelt. Er zeigte auf das Fach, auf die Müsliriegel, auf die Deo-Flasche, auf die zusammengerollten Socken. Er sagte das Wort „Brandschutz“ so, als wäre es eine Naturgewalt, der man nicht widersprechen darf.

Der Konrektor stand daneben, geschniegelt wie immer, und tat so, als wäre er nur zufällig hier. Ich sah in seinem Blick dieses leise „Ich hab’s doch gesagt“, als wäre er erleichtert, endlich wieder Recht zu haben.

„Wer hat das organisiert?“, fragte der Mann.

Ich wollte einen Schritt nach vorn machen. Ich wollte sagen: Ich. Ich bin eine alte Frau mit kaputtem Rücken und einem gelben Wagen, aber ich bin auch ein Mensch. Ich wollte das alles tragen, weil ich’s gewohnt bin, dass die Lasten auf meinen Schultern landen.

Doch bevor ich mich bewegen konnte, trat Leonie vor. Sie war nicht mehr das zitternde Kind in der Kabine. Sie war gerade, klar, und ihre Stimme war immer noch brüchig, aber sie hielt.

„Wir haben das organisiert“, sagte sie. „Schülerinnen und Schüler. Und wir lassen niemanden damit allein.“

Der Mann hob die Augenbrauen. „Dann brauchen wir Regeln. Und einen Ort, der nicht den Fluchtweg beeinträchtigt. Sonst ist das hier heute Abend zu.“

Ein Satz, so schlicht wie ein Urteil. Und plötzlich merkte ich, wie sehr ich an diesem rostigen Blechfach hing, als wäre es ein Herz, das man nicht einfach herausreißen kann.

In der nächsten Pause war der Flur voller Stimmen. Nicht laut-chaotisch, sondern dieses aufgeregte Summen, wenn Leute etwas zum ersten Mal ernst meinen. Ein paar Lehrkräfte standen abseits, unsicher, als hätte die Schule kurz vergessen, wer hier eigentlich die Erwachsenen sind.

Die Schulsozialarbeiterin, Frau Aydin, kam dazu. Ich kannte sie nur vom Sehen, eine Frau mit wachen Augen, die nicht so tut, als hätte sie für alles eine Lösung. Sie stellte sich vor Fach 104 und atmete einmal tief durch, als würde sie sich entscheiden.

„Okay“, sagte sie. „Wir machen das richtig. Nicht, um es zu kontrollieren. Sondern, damit es bleibt.“

Der Konrektor räusperte sich. „Aber Haftung…“

Frau Aydin sah ihn an, ohne Härte, aber auch ohne Angst. „Haftung ist auch: Verantwortung übernehmen, wenn Kinder Hilfe brauchen. Wir finden einen Weg. Mit Hygiene, mit Brandschutz, mit Verstand.“

Ich stand daneben und spürte etwas Seltsames: Erleichterung. Weil ich zum ersten Mal nicht alleine war.

Am Abend, als die Schule leer wurde, hörte ich Schritte, wo eigentlich keine sein sollten. Ich dachte erst, es sei der Hausmeister, aber dann sah ich Leonie und zwei andere Mädchen, dazu den Kapitän der Fußballmannschaft und einen Jungen, der sonst nie auffällt. Sie hatten Papier, Stifte, Klebeband und diese Konzentration im Gesicht, die man sonst nur vor Klassenarbeiten sieht.

„Susanne“, sagte Leonie. „Wir brauchen dich.“

„Mich?“, fragte ich. „Ich bin nur die Putzfrau.“

Der Junge hob den Kopf. „Du bist die, die angefangen hat.“

Das traf mich wie ein warmer Schluck Kaffee in einer kalten Küche. Und dann schob Leonie mir einen Zettel hin, auf dem in ungelenker Handschrift stand: „AG Offenes Fach – Plan“.

Wir liefen durch die Schule, als wäre sie unsere. Frau Aydin schloss einen kleinen Raum auf, ein ehemaliger Abstellraum neben der Bibliothek, der seit Jahren nur Staub gesammelt hatte. Kein Fluchtweg, keine Türen im Weg, ein Fenster, das man kippen konnte.

„Hier“, sagte sie. „Offene Tür in den Pausen. Und ein Regal, kein Schließfach. Dann kann niemand sagen, es ist versteckt oder gefährlich.“

Wir schrubbten den Raum, als hinge ein Leben daran. Ich wischte den Boden, die Kinder putzten die Regalbretter, der Kapitän schleppte einen alten Tisch hinein. Und irgendwann hing an der Tür ein Schild, sauber gedruckt und trotzdem menschlich: „Nimm, was du brauchst. Gib, was du kannst. Keine Fragen.“

Am nächsten Morgen kam ich früher, weil ich nicht schlafen konnte. Der Flur war noch still, nur das Summen der Neonröhren und mein eigener Atem. Als ich die Tür zu „Raum 104“ öffnete, stand auf dem Tisch eine Schale mit Teebeuteln und daneben ein kleiner Wasserkocher, den jemand von zu Hause mitgebracht hatte.

Da lag auch ein zweites Schild: „Für warme Hände.“

Ich musste mich kurz an den Türrahmen lehnen. Es war so eine Kleinigkeit, aber es sagte alles: Jemand hatte verstanden, dass Not nicht nur nach Seife riecht, sondern nach Kälte.

Die erste Woche lief wie ein Wunder. In der großen Pause stand eine Schlange vor der Tür, nicht zum Nehmen wie in einer Ausgabe, sondern zum Rein- und Rausgehen, als wäre es normal. Manche kamen nur rein, um kurz zu atmen, als wäre der Raum ein Stück Frieden.

Ich sah einen Jungen, der immer geschniegelt war, wie er mit gesenktem Blick eine Packung Zahnpasta aus dem Regal nahm. Und ich sah, wie er beim Rausgehen ein Päckchen Taschentücher dazuließ, als würde er sich entschuldigen, obwohl er nichts falsch gemacht hatte.

Dann kam der erste Schlag. Es ist immer so: Wo etwas Gutes wächst, kommt irgendwann jemand, der es ausreißen will, nur um zu sehen, ob es wirklich Wurzeln hat.

Eines Freitags fehlte plötzlich fast alles. Nicht ein bisschen, sondern leergefegt. Sogar der Wasserkocher war weg.

Ich stand da und starrte auf das nackte Holz, als hätte mir jemand die Luft geklaut. In meinem Kopf schoss sofort dieses alte Misstrauen hoch: Siehst du, Susanne. Du bist naiv. Du glaubst an Menschen, und am Ende bleibst du sitzen mit den Scherben.

Frau Aydin kam dazu. Leonie kam dazu. Und diesmal war es Leonie, die sich an den Türrahmen lehnte.

„Es war nicht von uns“, sagte sie leise. „Ich schwöre.“

Ich sah ihre roten Augen. Nicht die eines Kindes, das ertappt wurde. Die eines Menschen, dem man etwas genommen hat, das ihm Halt gibt.

„Ich glaube dir“, sagte ich. Und es tat gut, das auszusprechen, als würde ich damit nicht nur sie, sondern auch mich selbst retten.

Am Montag hing ein neues Schild an der Tür. Nicht aggressiv, nicht drohend, aber klar: „Wenn du nimmst, nimm nur, was du brauchst. Wenn du alles nimmst, bleibt für andere nichts.“

Daneben klebte ein Zettel mit einem Smiley, etwas krumm gezeichnet: „Wir fangen wieder an.“

Und wir fingen wieder an. Die Kinder brachten Sachen mit, als wäre es eine stille Trotzreaktion gegen diese Leere. Eine Mutter brachte eine Tüte mit Duschgel und Shampoo, ohne Namen, ohne Fragen, stellte sie ab und ging wieder. Ein älterer Herr, wahrscheinlich ein Opa, kam mit einem Karton Socken und sagte nur: „Meine Enkelin hat’s erzählt.“

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