Der Wasserkocher kam auch wieder. Eine Woche später stand sogar ein zweiter da.
Der Konrektor hielt sich im Hintergrund, aber ich bemerkte Veränderungen. Er lief nicht mehr so steif den Flur entlang. Er blieb manchmal stehen, sah durch die offene Tür, als würde er sich selbst dabei ertappen, dass er etwas fühlt.
Eines Abends, ich war gerade dabei, die Mülleimer zu leeren, kam er in die Nähe der Putzkammer. Er klopfte, unsicher, fast peinlich berührt.
„Frau… Susanne“, sagte er, als hätte er meinen Namen zum ersten Mal richtig im Kopf. „Hätten Sie kurz Zeit?“
In seinem Büro roch es nach Papier und diesem billigen Kaffee, der immer zu lange warm gehalten wird. Er räusperte sich wieder, wie immer, wenn etwas Menschliches in seine Kehle rutscht.
„Ich habe…“, begann er, und ich sah, wie schwer ihm das fiel. „Ich habe mit dem Förderverein gesprochen. Wir könnten offiziell einen kleinen Betrag bereitstellen. Nicht viel. Aber… regelmäßig. Und die Schulleitung… also… wir wollen das unterstützen.“
Ich starrte ihn an. Ich hatte erwartet, dass er mir Vorschriften bringt. Stattdessen brachte er etwas anderes: einen Versuch, sich zu ändern, ohne dabei das Gesicht zu verlieren.
„Und“, fügte er hinzu, „ich habe einen Brief an eine Drogerie in der Stadt geschrieben. Ob sie Probiergrößen spenden. Ohne Werbung. Einfach so.“
Das war der Moment, in dem ich verstand, dass Menschen nicht plötzlich gut werden. Sie werden nur manchmal mutig genug, einen Schritt zu machen.
„Danke“, sagte ich. Mehr bekam ich nicht heraus.
Der Winter zog weiter, und mein Rücken wurde nicht besser. Es gab Abende, da musste ich mich auf den Eimer in der Kammer setzen und warten, bis das Ziehen nachließ. Ich erzählte niemandem davon, weil alte Leute das so machen: Wir tragen still, bis wir umkippen.
An einem Mittwoch im Februar passierte es dann. Ich wollte nur den Wagen über die Schwelle heben, und plötzlich schoss ein Schmerz durch mich, so hell, dass mir schwarz vor Augen wurde. Ich ließ den Griff los, und der Wagen rollte gegen die Wand.
Als ich wieder klar sah, kniete Leonie vor mir. Woher sie kam, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht spürt man Dinge, wenn man gelernt hat hinzusehen.
„Susanne“, sagte sie, und ihre Stimme war auf einmal wieder die von damals in der Kabine. „Nicht alleine. Bitte.“
Ich wollte widersprechen. Ich wollte sagen: Ach was, Kindchen, das geht schon. Aber meine Hände zitterten, und ich merkte, dass ich nicht mehr die Heldin spielen konnte.
Sie holte Frau Aydin. Jemand holte den Hausmeister. Jemand brachte Wasser. Und keiner machte Witze, keiner schaute weg, keiner tat so, als wäre ich nur eine Putzfrau, die man aus dem Weg räumt.
Später, als ich zu Hause auf meinem Sofa saß, mit einem Wärmekissen im Rücken, klingelte es. Vor meiner Tür stand eine Tüte. Kein Absender, kein Zettel mit großen Worten. Nur Brot, Obst, Tee und eine Packung von diesen Wärmepflastern.
Ganz oben lag ein kleiner Zettel, wieder Glitzerstift: „Wer kann, der gibt. Heute für dich.“
Ich weinte nicht sofort. Ich starrte nur auf diese drei Zeilen, bis sie in mir etwas aufschlossen, das lange abgeschlossen gewesen war: das Recht, auch selbst Hilfe anzunehmen.
Die Wochen bis zum Frühling wurden leichter. Nicht, weil die Welt plötzlich fair wurde, sondern weil in diesem Schulgebäude etwas entstanden war, das stärker war als Scham. Raum 104 wurde offiziell „Solidaritätsraum“ genannt, so ein Wort, das in Protokollen gut klingt. Aber für die Kinder blieb es einfach „das offene Ding“.
Leonie machte ihren Abschluss. Am letzten Schultag stand sie im Flur, geschniegelt und blass vor Aufregung, und hielt eine kleine Rede, weil Frau Aydin das so wollte. Die Lehrkräfte klatschten, der Konrektor klatschte auch, etwas zu spät, aber ehrlich.
Dann drehte Leonie sich zu mir. Sie kam langsam, als wolle sie mir Zeit geben, mich nicht zu erschrecken.
„Susanne“, sagte sie. „Ohne dich…“
Ich hob die Hand. „Nein“, sagte ich. „Nicht ohne mich. Mit dir. Mit euch.“
Sie schluckte. Dann schob sie mir einen Umschlag in die Hand. „Später“, flüsterte sie.
Als die Schule leer war und ich meinen Wagen in die Kammer schob, setzte ich mich wieder auf den Eimer. Diesmal nicht vor Schmerz, sondern weil ich den Moment festhalten wollte. Ich öffnete den Umschlag.
Darin war ein Foto: Raum 104, das Regal voll, der Wasserkocher, die Schale mit Teebeuteln. Und darunter, in ordentlicher Schrift:
„Ich war das Mädchen in der Kabine. Du hast mir gezeigt, dass Würde manchmal in einer Jogginghose steckt. Und dass man nicht warten muss, bis jemand erlaubt, menschlich zu sein. Ich werde das weitertragen.“
Ich hielt das Foto, bis meine Finger warm wurden.
Ein paar Tage später bekam ich Post. Offiziell. Ein Schreiben der Stadt, irgendwas mit „Anerkennung für besonderes Engagement“. Ich lachte, weil ich wusste, dass Papier nie das ist, was zählt. Aber mit dem Schreiben kam auch etwas anderes: eine kleine Prämie, ein winziger Aufschlag, nichts Weltbewegendes.
Trotzdem zahlte ich damit meine Stromnachzahlung, ohne Bauchschmerzen. Und ich dachte: So fühlt es sich an, wenn ein Kreis sich schließt.
Im April wurde es draußen endlich milder. Die Rollläden in den Häusern gegenüber gingen wieder öfter hoch. Die Kinder kamen ohne Mütze, und die Flure rochen nicht mehr nach nassen Jacken, sondern nach Frühling und Pausenbrot.
Ich wischte wie immer. Ich schob meinen gelben Wagen wie immer. Aber ich war kein Geist mehr.
Denn jedes Mal, wenn ich an Raum 104 vorbeikam, hörte ich Stimmen. Leise, normal, freundlich. Ich sah eine Fünftklässlerin, die genauso verängstigt aussah wie damals Leonie, und ich sah, wie ein älterer Schüler ihr erklärte:
„Alles gut. Du nimmst einfach. Niemand fragt.“
Und ich dachte: Vielleicht ist das das größte Glück, das man in einer lauten Zeit haben kann. Nicht, dass alles perfekt wird. Sondern, dass irgendwo eine Tür offen bleibt.
Ich bin Susanne, 72. Ich sollte im Schrebergarten sitzen und Kaffee trinken. Vielleicht mache ich das eines Tages.
Aber heute gehe ich noch einmal den Flur entlang. Und wenn ich die Tür zu Raum 104 offen sehe, weiß ich: Manche Dinge kann man nicht abschließen. Nicht mit einem Schloss, nicht mit Paragraphen, nicht mit Angst.
Freundlichkeit findet immer einen Spalt. Und wenn genug Menschen hinschauen, wird aus einem Spalt eine offene Tür.






