Emil unter dem Apfelbaum | Er war alt, krank und vergessen – bis eine Frau ihm ein echtes Zuhause schenkte.

Teil 8 – Die Tierärztin weint

Der Februar brachte Stille.
Nicht die friedliche Stille eines verschneiten Morgens – sondern die Art Stille, in der selbst das Ticken der Wanduhr zu laut erscheint.

Emil bewegte sich kaum noch von seinem Platz am Ofen.
Er fraß, wenn man ihn bat. Trank, wenn man wartete.

Und wenn Liselotte mit ihm sprach, öffnete er die Augen –
nur kurz, nur für sie.


Dr. Vollmer kam nun jeden Freitag.
Ohne Termin, ohne Rechnung.

Sie brachte Wärmeflaschen, Infusionen, beruhigende Kräuterpaste für den Magen.
Und jedes Mal hockte sie sich vor Emil, flüsterte:
„Du kämpfst, mein Alter. Und wie du kämpfst.“

Eines Morgens blieb sie nach der Behandlung einfach auf dem Boden sitzen.
Ihre Augen glänzten.

„Ich hab solche Hunde wie ihn gesehen – viele.
Aber keiner hat je so geschaut.
So… wissend.“


Liselotte reichte ihr eine Tasse Tee.
Kamille, wie immer.

Sie sagte nichts.
Aber sie verstand.

Die Tierärztin strich Emil über die Stirn.
Dann, ganz plötzlich, füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Sie drehte sich zur Seite, schämte sich nicht – aber versuchte doch, stark zu bleiben.
„Verzeihen Sie“, murmelte sie.
„Es ist nur… er erinnert mich an den Hund meines Vaters. Der ist auch im Februar gegangen.“


Liselotte legte die Hand auf ihren Arm.
„Er geht nicht. Noch nicht.“

Dann, nach einem kurzen Schweigen:
„Und selbst wenn… dann wird er wissen, dass jemand ihn gehalten hat.
Nicht einfach losgelassen.“


Am Abend schrieb Liselotte in ihr Notizbuch:
“Dr. Vollmer geweint. Emil lebt. Ich auch.”

Sie las sich ihre alten Einträge durch.
Wie regelmäßig sie über Schmerzen sprach.

Jetzt – sprach sie mehr über Nähe.
Über das Streicheln, das Lecken an der Hand, das leise Schnaufen in der Nacht.


Sie rief beim Tierschutzbund Bayern an und fragte nach Palliativpflege für Haustiere.
Ein Begriff, den sie zuvor nie gebraucht hatte.

Aber jetzt fühlte er sich richtig an.
„Wir bieten Hausbesuche, Schmerztherapie, seelische Begleitung – für Tier und Mensch.“
Liselotte sagte:

„Ich brauche keine Hilfe für mich.
Nur… jemanden, der nicht wegschaut.“


Ein paar Tage später kam eine Mitarbeiterin der Organisation vorbei – jung, sanft, mit ruhiger Stimme.
Sie brachte Broschüren, ein Notfallset mit Einmalhandschuhen, und eine kleine Flasche Lavendelöl zur Beruhigung.


„Sie machen das gut, Frau Meinhard.
Besser als viele Tierkliniken.“


Emil döste auf seiner Decke, während sie sprach.
Seine Atmung war flach, aber rhythmisch.

Wenn Liselotte an ihm vorbeiging, bewegte sich sein Schwanz – ein einziges, langsames Wedeln.
Nicht weil er Hoffnung hatte.

Sondern weil er Frieden hatte.


Liselotte stellte sein Bettchen jetzt direkt ans Fenster.
Von dort konnte er den Apfelbaum sehen – kahl, aber standhaft.

Sie stellte einen alten, tragbaren CD-Player daneben und spielte leise klassische Musik.
Emil hob bei Bach den Kopf.
Bei Mahler schlief er tiefer.


Und nachts, wenn alles still war,
flüsterte sie ihm Geschichten.
Von Wilhelm.

Von Rex, dem Hund vor langer Zeit.
Von dem Tag, als sie Emil das erste Mal sah.


„Du bist nicht mein letzter Hund“, sagte sie leise.
„Aber du bist der, den ich am längsten gespürt habe.“

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