Teil 9 – Der Frühling kommt zurück
Die Sonne kam früher an diesem Morgen. Nicht grell, nicht laut – eher wie ein warmer Hauch über die noch kahlen Äste des Apfelbaums.
Liselotte saß schon vor sechs auf dem kleinen Stuhl am Fenster. Die Teekanne dampfte leise.
Neben ihr: Emil. Wach. Mit offenen Augen.
Er hatte sich in der Nacht kaum bewegt.
Aber jetzt… sein Blick war klarer.
Er versuchte aufzustehen – zitternd, aber entschlossen.
Liselotte stützte ihn unter der Brust, wie sie es gelernt hatte.
„Ganz ruhig, mein Emil. Es ist noch nicht eilig.“
Sie öffnete die Terrassentür.
Die Luft war frisch, leicht feucht, der Boden noch kalt.
Emil machte drei langsame Schritte.
Dann blieb er stehen.
Er schnupperte.
Die Ohren – eines geknickt, das andere aufmerksam – richteten sich auf.
Ein Vogel sang.
Liselotte hatte eine Decke auf die Bank gelegt.
Sie half ihm hoch.
Es dauerte.
Doch als er saß, war es, als würde die Welt stillstehen.
Der alte Schäferhund, der schon so viel hinter sich hatte,
schaute hinaus auf einen Baum, der noch nichts blühte – aber bald.
Sie setzte sich neben ihn.
Ihre Hand lag auf seiner Schulter.
Sein Kopf lehnte sich leicht an ihr Bein.
„Frühling, mein Junge“, flüsterte sie.
„Und du bist noch hier.“
Ein Nachbar kam vorbei, winkte vom Zaun.
„Ist er wieder auf den Beinen?“
Liselotte nickte.
„Er wollte raus.“
„Na, wenn das kein Zeichen ist…“
Emil schlief später auf der Bank ein.
Die Sonne wanderte, erreichte seinen Rücken, wärmte ihn.
Seine Pfoten zuckten leicht – wie früher, wenn er träumte vom Laufen, vom Spielen, von Wind.
Liselotte deckte ihn zu.
Und legte sich selbst einen Moment daneben, den Kopf an seine Seite.
Sie hörte seinen Atem.
Ruhig. Tief.
Noch da.
Am Abend schrieb sie nur einen einzigen Satz ins Notizbuch:
„Er lebt. Und heute war genug.“
Sie wusste, dass der Abschied irgendwann kommen würde.
Aber er war nicht heute.
Heute war Emil aufgestanden.
Hatte den Frühling gerochen.
Und sie hatte ihn dabei gehalten.