🐾 Teil 6: Die Stimme der Schwänze
Emma stand früh auf in diesen Tagen.
Früher als sonst.
Noch bevor der Tee gezogen hatte, lag der Wochenplan ausgebreitet auf dem Küchentisch.
Zettel, Namen, Hunderassen, Besuchszeiten.
Der kleine Leseraum war kein Geheimtipp mehr. Er war zu einem richtigen Projekt geworden.
Fünfzehn Kinder kamen regelmäßig.
Dazu sechs Hunde aus dem Tierheim.
Und inzwischen auch drei freiwillige Helfer.
Es war schön.
Es war lebendig.
Aber es war auch viel.
Emma war 68, nicht 38.
Sie liebte das, was aus ihrer Idee geworden war, doch sie spürte die Erschöpfung in ihren Gelenken.
Nicht körperlich allein, sondern im Kopf.
Zu viel Verantwortung, zu wenig Ruhe.
Und in dieser Ruhe lag ja der ganze Zauber der Hundebibliothek.
Eines Nachmittags blieb sie länger sitzen, als alle Kinder gegangen waren.
Tubo lag zu ihren Füßen, schlief tief.
Noah setzte sich neben sie, ganz selbstverständlich.
„Du bist müde, oder?“
Emma lächelte.
„Ein bisschen.“
Noah blickte auf den Stapel Bücher, dann auf den Plan an der Wand.
„Ich kann helfen.“
Emma sah ihn an.
Er meinte es ernst.
„Als was denn?“
„Als… Tubos Assistent.“
Er streichelte dem Beagle sacht den Rücken.
„Ich kenn ihn. Ich weiß, wann er nicht mehr mag. Ich kann auf ihn aufpassen.“
Emma sagte nichts.
Sie stand auf, ging zum Regal und holte ein kleines, leeres Heft.
„Dann bekommst du ein Notizbuch. So wie ich eins habe.
Du schreibst rein, wie es ihm geht. Wann er Pause braucht. Wer mit ihm liest. Was er mag.“
Noah nahm das Heft mit beiden Händen.
Er nickte.
So fest, dass Emma kurz lachen musste.
Am nächsten Tag stand auf der ersten Seite:
Tubo mag keine lauten Stimmen.
Aber er mag, wenn man ihm ins Ohr flüstert.
Er mag keine Jungs mit schnellen Bewegungen.
Aber er mag, wenn Ben langsam liest.
Tubo ist müde nach vier Kindern.
Dann schläft er tief. Aber mit offenen Ohren.
Emma klebte ein Lesezeichen ein.
Ein kleiner Helfer war geboren.
Auch andere Kinder wollten helfen.
Lina kümmerte sich um das Trinkwasser der Hunde.
Ben durfte die Kissen ausklopfen.
Und Sophie, die Lehramtsstudentin, bot an, einmal pro Woche einen „Hunde-Workshop“ zu machen – über Körpersprache, Pflege und Verhalten.
„Wenn die Kinder lernen, wie Hunde ticken, verstehen sie vielleicht auch sich selbst besser“, sagte sie.
Emma nickte.
Sie wusste, dass es stimmte.
Die Atmosphäre im Raum veränderte sich.
Nicht schlechter nur anders.
Weniger ruhig, aber dafür gemeinschaftlicher.
Die Kinder fühlten sich verantwortlich.
Sie fragten, halfen, planten.
Manchmal diskutierten sie, welcher Hund zu welchem Kind passte.
Emma beobachtete das mit einem Gefühl, das irgendwo zwischen Stolz und Wehmut lag.
War das noch die kleine, stille Hundebibliothek?
Oder war sie gerade dabei, etwas Größeres zu werden?
An einem Freitag stand plötzlich eine Frau im Türrahmen, mit grauem Dutt und Aktentasche.
Sie stellte sich als Frau Keller vor – Leiterin des Jugend- und Schulamts.
„Ich habe von Ihnen gelesen. Und von diesem Hund hier“, sagte sie und zeigte auf Tubo, der wie immer ruhig auf seiner Decke lag.
„Wir suchen nach neuen Formen der Leseförderung. Nach niedrigschwelligen Projekten. Ihre Arbeit ist… bemerkenswert.“
Emma dankte höflich, aber innerlich war sie angespannt.
Sie hatte genug Erfahrung mit offiziellen Worten, die nach Pflicht rochen.
„Ich möchte, dass Sie ein Konzept schreiben. Vielleicht für andere Schulen. Vielleicht als Pilotprojekt. Natürlich mit Unterstützung der Stadt.“
Emma schluckte.
„Ich bin keine Projektleiterin. Ich bin pensioniert.“
Frau Keller lächelte.
„Aber offenbar noch nicht ganz fertig.“
Sie reichte ihr eine Visitenkarte.
Dann ging sie.
Emma ließ die Karte auf dem Tisch liegen.
Abends, in ihrer kleinen Küche, sprach sie mit Tubo.
Wie sie es immer tat.
„Was meinst du?
Willst du in andere Städte fahren?
Willst du neue Räume beschnüffeln?
Neue Kinder hören?“
Tubo antwortete nicht.
Aber er legte den Kopf in ihren Schoß.
In den nächsten Tagen sprach Emma mit Sophie, mit den Kindern, mit Marquardt vom Tierheim.
Alle sagten dasselbe:
„Wir helfen dir.“
Noah schrieb eine neue Geschichte.
Titel: „Der Hund, der nicht wollte, dass alles gleich bleibt.“
In der Geschichte ging es um einen Hund, der jedes Kind kannte.
Jede Stimme.
Jeden Ton.
Und der Angst hatte, dass alles zu groß wird.
Aber dann merkte er, dass man auch in einer großen Welt leise sein kann.
Und trotzdem gehört wird.
Emma las die Geschichte in ihrem Lesesessel.
Sie faltete sie sorgfältig zusammen und legte sie in ihr Notizbuch.
Dann nahm sie die Visitenkarte von Frau Keller.
Und wählte die Nummer.
Zwei Wochen später wurde ein Aushang gemacht.
„Kinder gesucht für Lesegruppe mit Hundebegleitung, jetzt mit offizieller Genehmigung der Stadt Lichtenau.“
Emma stand davor und las ihn zweimal.
Er war sachlich.
Trocken.
Aber dahinter steckte etwas Lebendiges.
Etwas, das mit einem stillen Hund und einem stummen Jungen begonnen hatte.
Und nun weitergetragen wurde von kleinen Händen, kleinen Stimmen, kleinen Schwänzen, die wedelten wie Fahnen im Wind.
Wenn Kinder Verantwortung übernehmen, beginnt etwas Großes, auch wenn es auf vier Pfoten ddahek