🐾 Teil 10: Emma liest vor
Die Nachmittagssonne fiel weich durch die großen Fenster der alten Schule.
Staubkörner tanzten in der Luft, Bücher lagen offen auf Tischen, und irgendwo schnarchte ein Hund leise im Schlaf.
Der Raum war voll nicht laut, aber lebendig.
Eltern, Kinder, Hunde, ehemalige Helfer, neugierige Besucher.
Alle waren gekommen, weil sie wussten: Heute würde etwas Besonderes geschehen.
Emma saß in einem großen Ohrensessel, mitten im Raum.
Ein Kissen im Rücken, eine Tasse Kamillentee auf dem Hocker neben ihr.
In den Händen hielt sie ein gebundenes Buch, schlicht, ohne Verlag, aber mit einem Titel, der den meisten im Raum das Herz berührte.
„Der Hund, der zuhörte – Eine Geschichte von Tubo und Noah“
Sie hatte es selbst geschrieben.
Nicht für den Verkauf, nicht für Ruhm.
Nur für diesen Moment.
Noah saß rechts von ihr.
Länger gewachsen, schmal im Gesicht.
Kein Kind mehr. Fast fünfzehn.
Auf seinem Schoß lag Rieke, die inzwischen keine Angst mehr hatte vor Stimmen.
Nur manchmal noch vor zu vielen Händen.
Emma sah ihn kurz an, dann begann sie zu lesen.
Ihre Stimme war nicht mehr so kräftig wie früher.
Aber sie trug jedes Wort mit der Ruhe eines Lebens voller Seiten.
Es war einmal ein Hund,
der keine Stimme hatte,
aber viele Ohren.Und ein Junge,
der viele Worte im Kopf hatte,
aber keine Stimme.Und als sie sich trafen,
hörte der Hund zu.
So lange, bis der Junge
wieder sprechen konnte.
Die Kinder saßen auf Kissen, einige lehnten sich an die Hunde.
Sophie notierte sich etwas, vermutlich für das nächste Lesetreffen.
Ben hatte die Augen geschlossen. Lina hielt ein Stofftier fest.
Emma las weiter.
Vom ersten Treffen.
Von Tubos Stille.
Von Noahs ersten Worten.
Von Momenten, die nicht laut waren, aber groß.
Sie las ohne Eile.
Und jeder Satz war wie ein warmer Schal um die Schultern der Zuhörenden.
Der Hund war alt geworden.
Sein Rücken schwer,
sein Herz müde.
Aber er blieb,
bis der Junge stark genug war,
um ohne ihn zu lesen.Und dann ging er.
Leise.
Wie er gekommen war.
Emma schluckte kurz, hielt inne.
Ihre Augen glitten über die Kinder, die Hunde, die Freunde.
Und dann las sie das letzte Kapitel.
Der Junge wurde älter.
Aber jedes Mal,
wenn er einem anderen Kind zuhörte,
hörte auch der Hund zu.Denn manche Freundschaften
sterben nicht.
Sie verwandeln sich.
In Mut.
In Geduld.
In Geschichten.
Als sie geendet hatte, war es still.
Nicht die Art von Stille, die unangenehm ist.
Sondern die Art, die bleibt, wenn ein Raum gefüllt ist mit Bedeutung.
Dann begannen die Kinder zu klatschen.
Langsam, fast ehrfürchtig.
Ein Vater wischte sich die Augen.
Sophie legte ihre Hand auf Emmas Schulter.
Und Noah – er stand auf, trat einen Schritt nach vorn und sagte:
„Ich bin nicht mehr der Junge von damals.
Aber ich werde nie vergessen, wie es war, ein Kind zu sein, das gehört wurde.“
Er drehte sich zu den anderen Kindern.
„Wenn ihr mal denkt, dass niemand zuhört
dann setzt euch zu einem Hund.
Und lest ihm etwas vor.“
Emma lachte leise.
Nicht, weil es lustig war.
Sondern weil es wahr war.
Nach der Lesung blieb der Raum noch lange voll.
Die Kinder bastelten neue Namensschilder für die Hunde.
Eltern unterhielten sich, halfen beim Aufräumen.
Ein Junge, vielleicht sechs Jahre alt, saß in der Ecke, flüsterte einem jungen Mischling aus dem Tierheim eine Geschichte zu.
Emma beobachtete alles.
Mit Händen, die etwas zittriger waren als früher, aber mit einem Herzen, das ruhiger schlug denn je.
Sie setzte sich später mit Sophie ans Fenster.
„Du machst das gut“, sagte Emma.
„Du auch“, sagte Sophie.
Dann sah Sophie sie ernst an.
„Und wenn du mal gar nicht mehr hier bist?“
Emma blickte hinaus, wo die Kinder spielten, Hunde tollten, Bücher herumlagen.
„Dann bin ich hier –
in jedem Ohr, das zuhört,
in jedem Kind, das sich traut, ein Wort zu sagen,
und in jedem Hund, der einfach bleibt.“
Als die letzten gegangen waren, blieb Noah noch kurz.
Er half, die Decken zusammenzulegen, streichelte Rieke und setzte sich dann neben Emma.
„Ich will mal was mit Tieren machen“, sagte er.
„Vielleicht Tierarzt. Oder Trainer. Oder einfach was mit Hunden.“
Emma nickte.
„Du wirst wissen, was richtig ist.“
„Und du?
Wirst du weiterschreiben?“
Emma schloss ihr Buch, strich über das Cover.
„Vielleicht.
Oder vielleicht höre ich einfach weiter zu, so wie Tubo es getan hat.“
Noah stand auf, umarmte sie.
Nicht lange.
Aber fest.
„Danke“, sagte er.
Emma schloss die Augen.
„Ich auch.“
Manche Bücher enden nie.
Sie werden weitergetragen.
In Stimmen.
In Pfoten.
Und in Herzen, die einmal gehört wurden.