Engel im Regen | Er fand einen nassen Hund im Regen – und begegnete einem Freund aus der Kindheit

Teil 4: Wenn die Stille beginnt

Der Regen hatte sich verzogen, aber der Himmel blieb bleiern.
Die Welt schien langsamer zu atmen.
Paul spürte es zuerst in seinen Schritten – sie waren schwerer geworden. Nicht weil die Beine versagten, sondern weil etwas anderes sich senkte:
Die Ahnung vom Abschied.

Er fuhr früh los, wie jeden Tag.
Engel saß diesmal vorne, auf dem Beifahrersitz, den Kopf leicht schräg, als würde sie verstehen, wohin es ging.
Matty lag hinten, schnarchte leise, mit der Gelassenheit alter Hunde.

Auf halber Strecke hielt Paul an einem kleinen Blumenstand am Straßenrand.
Sonnenblumen, dickköpfig und warm, standen dort in einer alten Zinkwanne.
Er nahm drei. Bezahlt wurde in eine Blechkasse mit einem Zettel: „Vertrauen ist der schönste Lohn.“

Er lächelte.
Vielleicht war das wahr.

Im Krankenhaus roch es wie immer nach Desinfektion, altem Kaffee und Müdigkeit.
Lena wartete schon vor Zimmer 213.
Ihre Augen waren rotgerändert, die Stimme leise.

„Er spricht kaum noch. Aber er weiß, dass du kommst.“

Paul nickte.
Die Sonnenblumen in der Hand wirkten plötzlich fehl am Platz – zu lebendig für diesen Ort.
Aber er nahm sie trotzdem mit hinein.

Walter lag halb aufgerichtet.
Sein Gesicht war wächsern, eingefallen, aber in den Augen – da flackerte etwas auf, als Paul eintrat.

„Sonnen… blumen?“, flüsterte er.

Paul stellte sie auf den Fenstersims.
„Deine Lieblingsblumen“, sagte er.

Walter schloss kurz die Augen.
Dann:
„Erinnerst du dich an den Sommer… mit dem Sonnenblumenfeld… und der Scheune…?“

Paul lächelte.
„Natürlich. Du bist ausgerutscht. Ich habe dich ausgelacht, und du hast mir später die Fahrradbremse gelöst.“

Walter grinste – oder versuchte es zumindest.
Dann sagte er ganz leise:
„Ich will nicht gehen, ohne dass du etwas weißt.“

Paul setzte sich ans Bett.
„Sag es.“

„Engel… sie war meine zweite Chance. Nach dem Tod von Marie war ich allein. Und dann… kam sie. Von einer Pflegestelle. Ein Häufchen Elend. Ich wollte sie erst gar nicht behalten. Aber sie blieb. Und sie hat mich jeden Morgen daran erinnert, aufzustehen.“

Paul sagte nichts.
Was sollte man auch sagen?
Man kann ein Leben nicht zusammenfassen.
Man kann nur zuhören.

Engel sprang ans Bett, legte den Kopf an Walters Hand.
Er streichelte sie mit letzter Kraft.
Dann drehte er langsam den Kopf zu Paul.

„Wenn es vorbei ist… nimmst du sie mit?“

Paul sah ihn an.
„Natürlich.“

Keine Pause. Kein Zögern.
Nicht aus Mitleid – sondern weil es richtig war.

„Danke“, flüsterte Walter.
„Dann geht wenigstens ein Teil von mir weiter.“

Als sie später draußen saßen – Paul, Lena und die beiden Hündinnen – war es überraschend warm geworden.
Lena trank aus einem Pappbecher, fuhr sich durchs Haar.

„Ich habe manchmal das Gefühl, ich kann ihm nicht gerecht werden“, sagte sie. „Ich war nie besonders eng mit ihm. Erst jetzt, in den letzten Wochen, habe ich ihn richtig kennengelernt.“

Paul nickte.
„Manchmal muss etwas zerbrechen, damit man die Risse sieht.“

„Ich bin froh, dass du da bist“, sagte Lena dann. „Es macht es für ihn… leichter.“

Paul schaute zu Engel, die ruhig unter der Bank lag.
„Für mich auch.“

In den nächsten Tagen kam kein Wort mehr aus Walters Mund.
Nur noch Gesten, Blicke, ein leichtes Nicken, wenn Engel ans Bett trat.
Die Hündin wich nicht mehr von seiner Seite.
Sie fraß nur wenig, trank kaum.
Aber sie blieb.

Am sechsten Tag war es still.
Zu still.

Als Paul ins Zimmer trat, standen zwei Pflegerinnen am Bett.
Lena saß am Fenster, die Stirn gegen die Scheibe gelehnt.

Walter war gegangen.

Der Himmel war klar an diesem Tag.
Keine Wolke. Kein Wind.
Nur das Rauschen der Pappelblätter vor dem Fenster.

Paul trat ans Bett.
Walter sah friedlich aus.
Wie einer, der den letzten Satz eines langen Buches gelesen hatte.

Er legte seine Hand auf Walters Schulter.
Ein stiller Gruß.

Die Beerdigung fand vier Tage später statt.
Klein, schlicht.
Auf dem Friedhof von Rehbach, neben der Kirche mit dem roten Ziegeldach.

Paul hielt keine Rede.
Er stellte nur die Sonnenblumen aufs Grab.
Dann legte er einen alten, vergilbten Brief dazu.
Den letzten. Den nie gesendeten.

Engel stand still daneben.
Matty auch.
Zwei Hunde, zwei Zeuginnen einer Geschichte, die zu Ende gegangen war – und doch neu begann.

Lena umarmte Paul zum Abschied.

„Ich habe lange überlegt“, sagte sie.
„Ob ich Engel zu mir nehme. Aber sie braucht mehr, als ich geben kann. Ich glaube, sie hat ihren Platz schon gefunden.“

Paul lächelte traurig.
„Dann werde ich gut auf sie aufpassen.“

„Ich weiß.“

Auf dem Heimweg fuhr Paul langsam.
Sehr langsam.
Engel lag still auf dem Beifahrersitz, aber ihre Augen waren offen – und auf ihn gerichtet.

Nicht traurig.
Nur wach.
Bereit.

Zu Hause schloss er die Tür auf, stellte die Einkaufstasche in die Küche.
Matty tappte in den Flur, legte sich mit einem Seufzen auf ihren Platz.

Engel blieb stehen.
Sah sich um.
Dann ging sie leise zum Sessel neben dem Kamin – und legte sich hin.
Als hätte sie das schon immer getan.

Paul setzte sich in die Küche, schaltete das Radio ein.
Ein leises Akkordeon spielte, ein Lied aus früheren Tagen.
Er goss sich Tee ein.

Dann nahm er drei Tassen aus dem Schrank.
Eine für sich.
Eine für Matty.
Und eine – für Engel.

Die grüne mit der abgeplatzten Ecke.

Und in diesem Moment, zwischen Tee und altem Lied, begann Paul zu begreifen, dass er nicht nur einen Hund aufgenommen hatte – sondern ein Stück unvollendetes Leben.

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