Teil 5: Und plötzlich war sie da
In den ersten Tagen nach der Beerdigung war es still im Haus.
Nicht die unangenehme, kühle Stille, wie sie nach einem Streit herrscht.
Es war die Art von Stille, die sich zwischen vertrauten Atemzügen niederlässt.
Eine, in der man sich nicht erklären muss.
Engel bewegte sich vorsichtig.
Als wolle sie nicht stören.
Sie schlich durch den Flur, trank lautlos aus ihrer Schale, schlief nahe der Terrassentür – immer mit dem Blick auf Paul, nie aufdringlich, nur da.
Ein Schatten, der wärmt.
Paul hatte lange nicht mehr mit zwei Hunden gelebt.
Nach Ritas Tod war es Matty gewesen, die ihm Struktur gab.
Einmal raus am Tag. Einmal füttern.
Einmal kraulen vor dem Einschlafen.
Jetzt war da Engel.
Sie fraß nur, wenn Matty fraß.
Sie bellte kaum.
Und sie trug etwas mit sich – eine Stille, die Paul nicht erklären konnte. Als wäre sie nicht nur Hund, sondern Hüterin eines letzten Versprechens.
Eines Morgens, als der Nebel über dem Tal hing wie ein altes Leinentuch, saß Paul auf der Bank vor dem Haus und trank seinen Kaffee.
Matty lag ihm zu Füßen.
Engel saß am Rand der Treppe, gerade so, dass sie ihn sehen konnte, aber weit genug, um nicht zu nah zu sein.
Paul betrachtete sie.
Ihr Fell war nun wieder trocken, weich, cremefarben mit einem dunkleren Fleck auf dem Rücken.
Die Augen: Bernsteinfarben. Ruhig.
Nicht ängstlich, nicht fordernd.
Einfach nur: da.
Er erinnerte sich an die Zeit nach Ritas Tod.
Die Stille war damals anders gewesen – schwer, bleiern.
Er hatte drei Wochen lang kaum gesprochen.
Matty war damals noch jung.
Sie war unruhig gewesen, bellte oft, suchte in jedem Zimmer nach Rita.
Dann hatte sie eines Nachts ihr altes Halstuch aus der Wäschetruhe gezogen – und sich daraufgelegt.
Da hatte Paul zum ersten Mal wieder geweint.
Still.
Lang.
Bitter.
Am dritten Tag nach der Beerdigung machte er den ersten Ausflug mit beiden Hündinnen.
Einfach zum Bach runter, durch das kleine Waldstück, das er „den alten Pfad“ nannte.
Rita mochte ihn nie besonders – zu viele Wurzeln, zu steil.
Paul aber liebte ihn.
Dort war es immer ein wenig kühler, stiller.
Matty lief voraus, wie immer.
Engel folgte dicht hinter Paul, fast lautlos.
Ab und zu sah sie zu ihm auf, als wolle sie fragen: „Ist das hier erlaubt?“
Er nickte.
„Du darfst. Wir gehen diesen Weg jetzt zu dritt.“
Sie kamen an einer kleinen Lichtung vorbei.
Früher hatten hier Kinder gebaut: Hütten, Seilrutschen, manchmal auch nur Unsinn.
Jetzt war alles verwachsen.
Paul setzte sich auf den gefallenen Stamm einer alten Eiche.
Matty schnüffelte am Waldrand.
Engel blieb stehen – und bellte.
Ein einziges, tiefes, klares Bellen.
Nicht erschrocken, nicht unsicher.
Ein Ruf.
Als hätte sie sich entschieden.
Dann lief sie los – nicht weit, nur ein paar Meter.
Drehte sich um.
Wartete.
Paul stand auf und folgte ihr.
Hinter dem Brombeerbusch war ein kleiner Haufen: Laub, Äste, Erde.
Ein Dachsbau?
Nein – ein vergrabenes Stofftier.
Ein brauner Bär, halb vermodert, halb zerbissen.
Engel stand daneben und winselte leise.
Dann scharrte sie.
Paul kniete sich hin, hob das Tier vorsichtig auf.
Er roch nach Erde, nach Regen – und nach Kindheit.
Am Abend saß Paul lange im Wohnzimmer.
Der Bär lag auf dem Tisch.
Matty schnarchte auf der Couch.
Engel lag vor dem Kamin.
Er betrachtete das Stofftier.
Vielleicht hatte Walter es ihr gegeben. Vielleicht hatte es im Garten gelegen, vergessen.
Vielleicht war es nur ein Zufallsfund.
Aber in Paul bewegte sich etwas.
Wie ein Tropfen, der in einen stillen See fällt.
Nicht laut, aber lange spürbar.
Er ging zum Schrank, öffnete die Schublade mit den alten Briefen.
Er nahm einen heraus, den Walter geschrieben hatte.
Darin stand:
„Wenn Engel jemals zu dir kommt, dann vergiss nicht: Sie hat mehr gehört als wir sagen konnten.“
Am nächsten Morgen bereitete Paul zum ersten Mal seit Jahren Rührei zu.
Drei Portionen.
Eine für ihn.
Zwei kleine, für Matty und Engel.
Er setzte sich an den Tisch, stellte die grünen Näpfe auf den Boden.
Matty fraß wie immer.
Engel zögerte kurz – dann fraß auch sie.
Langsam.
Aber mit Appetit.
Paul lehnte sich zurück.
Draußen kroch die Sonne über die Hecke, warf lange Schatten ins Zimmer.
Er trank seinen Tee.
Und dachte:
Vielleicht ist es gar nicht zu spät.
Am Nachmittag brachte er die grüne Tasse auf den Dachboden.
Nicht, um sie wegzulegen – sondern um Platz zu schaffen.
Er holte zwei alte Decken herunter, eine große Emaillewanne, und ein Körbchen, das Rita mal gekauft, aber nie benutzt hatte.
Im Wohnzimmer richtete er eine neue Ecke ein – für Engel.
Nicht neben Matty, nicht abseits.
Sondern dazwischen.
In der Mitte.
Als es Abend wurde, setzte sich Engel von selbst hinein.
Sie legte sich nicht gleich hin.
Sondern sah Paul an.
Lange.
Dann senkte sie den Kopf – und schlief ein.
Und Paul, der dachte, alles Wichtige in seinem Leben sei vorbei, merkte plötzlich, dass da noch etwas wuchs – ganz leise, wie Gras zwischen altem Pflaster.