Teil 6: Der Platz am Gartenzaun
Es war Samstagmorgen, als Paul zum ersten Mal wieder über den Gartenzaun sprach.
Seit Ritas Tod hatte er Nachbarn freundlich gegrüßt, genickt, vielleicht mal ein “Moin” gesagt.
Aber Gespräche? Nein.
Wozu auch?
Doch an diesem Morgen stand Herr Neumann neben seinem Komposthaufen, mit Gummistiefeln und einer zerbeulten Gießkanne, als Engel zum Zaun trottete, stehen blieb und wedelte.
Neumann, ein hagerer, wettergegerbter Mann um die siebzig, beugte sich hinunter.
„Na, wer bist du denn? Dich kenn ich noch nicht.“
Paul stand auf seiner Seite des Zauns, Tasse in der Hand.
„Das ist Engel“, sagte er ruhig.
„Neu hier. Gehört jetzt zu uns.“
Neumann sah auf.
„Darf ich fragen, wo sie herkommt?“
Paul überlegte kurz.
Dann sagte er:
„Von einem alten Freund. Der ist kürzlich gestorben.“
Neumann nickte, langsam, respektvoll.
„Ein Hund, der bleibt, wenn einer geht. Gibt nichts Ehrlicheres.“
Am Nachmittag klingelte es.
Das passierte selten.
Vor der Tür stand Frau Martens von gegenüber, mit einem Glas Apfelmus in der Hand.
„Für Ihre Engel“, sagte sie.
„Meine Enkelin hat sie gestern gestreichelt. Sie meint, sie schaut, als würde sie Geschichten kennen.“
Paul nahm das Glas.
„Das tut sie wohl.“
Frau Martens blieb stehen, als wolle sie noch etwas sagen.
Dann:
„Man merkt, dass sie nicht nur irgendein Hund ist.“
Paul lächelte.
„Nein. Sie ist ein Stück Erinnerung. Und ein neuer Anfang.“
Die Tage wurden kürzer.
Der Sommer roch schon nach Abschied.
Und doch war da Wärme – nicht in der Luft, sondern im Haus.
Engel fand ihren Rhythmus.
Sie schlief jetzt öfter auf der Couch, dicht bei Matty.
Sie war nicht laut, nicht aufdringlich, aber sie war da – wie ein leises Lied, das nicht aufhört.
Paul begann, Spaziergänge länger zu machen.
Nicht mehr nur der Routine wegen, sondern weil es sich gut anfühlte.
Mit zwei Hunden zu gehen bedeutete: mehr Blicke, mehr Gespräche, mehr Geschichten.
An der Mümling sprach ihn ein älterer Mann an:
„Die Helle da – wie heißt sie?“
„Engel.“
„Passt. Die hat was… Tröstliches.“
Eines Abends holte Paul den Karton mit alten Dias vom Dachboden.
Er hatte sie seit Ritas Tod nicht mehr angerührt.
Mit einem alten Projektor warf er die Bilder an die Wohnzimmerwand.
Rita im Garten.
Rita mit Paul auf dem Kahn in Plön.
Dann ein Bild, das er vergessen hatte:
Walter und Paul, beide zehn Jahre alt, mit Eishörnchen in der Hand.
Im Hintergrund ein brauner Mischling – Waldis erster Hund.
„Bimbo“, murmelte Paul.
„Du lieber Himmel…“
Engel saß auf dem Teppich und blickte auf das Lichtbild.
Sie konnte es nicht verstehen, und doch schien sie zu spüren, dass etwas in der Luft lag – etwas Warmes, Wehmütiges.
Am nächsten Tag schrieb Paul einen Brief.
An niemanden bestimmten.
Einfach nur Worte auf Papier.
Er schrieb über Engel.
Über Walter.
Über den Moment an der Ampel.
Er schrieb:
„Ich dachte, mein Leben sei ein langsames Verblassen. Aber Engel kam – und plötzlich gab es wieder Farben.“
Lena rief an.
„Ich wollte nur hören, wie es euch geht.“
„Gut“, sagte Paul.
„Sie gehört hierher. Matty hat sie längst adoptiert.“
„Dann bin ich froh“, sagte Lena.
„Ich hatte Angst, sie würde trauern. Aber irgendwie… war sie bereit.“
Paul schwieg kurz.
Dann sagte er:
„Ich glaube, sie hat dich beschützt. Und jetzt schützt sie mich.“
Im Dorf sprach man über ihn.
Aber anders als früher.
„Der Kramer? Ist wieder mehr draußen. Hat jetzt zwei Hunde.“
„Hat wieder angefangen, zu gärtnern.“
„Und er redet sogar mit Neumann!“
Paul hörte das, wenn er beim Bäcker stand.
Er sagte nichts dazu.
Aber es tat gut.
An einem Sonntag fuhr er mit Engel und Matty an den See.
Es war das erste Mal seit Jahren, dass er wieder dort war.
Rita hatte den Platz geliebt – aber Paul hatte ihn nicht mehr ertragen.
Zu viele Erinnerungen.
Jetzt aber war er da.
Die Hunde sprangen ins Wasser, planschten, bellten.
Paul saß am Ufer, die Füße im Wasser.
Und dachte:
So fühlt es sich an, wenn etwas heilt.
Ein Junge kam vorbei, vielleicht acht oder neun.
Er streichelte Engel, die still liegen blieb.
Dann fragte er:
„Ist sie ein Engel?“
Paul lachte.
„Für manche Menschen war sie das.“
Der Junge nickte.
Dann sagte er:
„Wenn ich mal alt bin, will ich auch so einen Hund.“
Auf dem Heimweg lag Engel auf dem Beifahrersitz, die Augen halb geschlossen.
Matty schnarchte im Kofferraum.
Paul fuhr langsam.
Keine Eile. Kein Lärm.
Nur die Gewissheit:
Dieses Stück Leben gehörte ihm wieder.
Zu Hause goss er die Blumen.
Dann nahm er drei Näpfe – und füllte sie.
Einen für Matty.
Einen für Engel.
Und den dritten – leer.
Er stellte ihn trotzdem hin.
Für Walter.
Nur dieses eine Mal.
Und als Paul sich setzte, mit Tee in der Hand und zwei ruhenden Hunden zu Füßen, wusste er: Manchmal dauert es ein halbes Leben, bis man wieder lernt, das Heute zu lieben.