Engel im Regen | Er fand einen nassen Hund im Regen – und begegnete einem Freund aus der Kindheit

Teil 8: Der Sommer, der offen blieb

Es begann mit einem Geruch.
Nach feuchtem Gras, warmer Erde und der leichten Säure von alten Büchern.
Paul stand auf dem Dachboden, auf der Suche nach einer Decke für den nahenden Herbst – und fand stattdessen einen Karton, den er längst vergessen hatte.

Darin: ein alter Turnbeutel, ausgeblichen, mit „P. Kramer“ in Kinderschrift.
Und darunter: ein Briefumschlag. Nie geöffnet.
Ohne Marke, ohne Adresse – nur ein Name.
Walter.

Er setzte sich auf die Bodendielen, Engel legte sich neben ihn.
Die Dielen knarrten unter seinem Gewicht, und draußen raschelte der Wind in den Ästen.
Paul öffnete den Umschlag mit vorsichtigen Fingern. Das Papier war vergilbt, aber die Tinte noch gut lesbar.

„Lieber Walter,“

„du hast gesagt, du fährst nur kurz. Ich glaube dir, aber ich will, dass du zurückkommst, bevor die Schule wieder anfängt.“

„Ich hab dein Taschenmesser. Ich pass auf.“

„Wenn du nicht schreibst, bin ich nicht böse. Aber ich werd traurig. Dann denkt Matty, ich hab Bauchweh, dabei ist es das Herz.“

„Dein Paul.“

Er hielt den Brief eine Weile in der Hand.
Dann legte er ihn neben sich, stützte die Ellbogen auf die Knie – und sah ins Nichts.

Er erinnerte sich.

Sommer 1965.
Sie waren unzertrennlich gewesen, er und Walter.
Zwei Jungs mit zu großen Träumen und zu kleinen Rädern.
Sie hatten geschworen, dass sie sich nie vergessen würden.
Und dann – war Walter verschwunden.

Ohne Abschied.
Nur ein Satz seiner Mutter, hastig an der Tür:
„Wir müssen weg. Es geht nicht anders.“
Und am nächsten Morgen war das Haus leer.

Paul war noch ein Kind gewesen, aber irgendetwas hatte sich damals in ihm verhärtet.
Ein Gefühl, das bis heute blieb.
Nicht Wut.
Nicht einmal Traurigkeit.
Sondern dieses leise, brennende Nichtverstehen.

Warum war da kein Wort gewesen?
Kein Zettel, kein letzter Blick?

Jetzt, mit fast siebzig, saß er da – mit dem Brief in der Hand – und verstand plötzlich:
Walter hatte es wohl genauso empfunden.
Sie hatten sich einfach beide nicht getraut, den ersten Schritt zu machen.

Später, am Kamin, nahm Paul den Brief wieder zur Hand.
Er faltete ihn, steckte ihn in einen neuen Umschlag – und legte ihn in das kleine Holzkästchen, in dem auch Walters letzte Zeilen lagen.

Engel lag zu seinen Füßen, schlief.
Matty atmete ruhig auf dem Sofa.

Paul strich sich übers Gesicht.
Es war, als hätte er etwas zurückgegeben, das nie jemand eingefordert hatte – aber immer fehlte.

Am nächsten Tag beschloss er, zum alten Schulhof zu fahren.
Nicht zur neuen Schule – zur alten.
Dort, wo alles angefangen hatte.

Er stellte das Auto auf dem Schotterstreifen ab, ging zu Fuß weiter.
Engel trottete neben ihm her.
Matty ließ er zu Hause – sie mochte das Kopfsteinpflaster nicht mehr.

Der Schulhof war kleiner, als er ihn in Erinnerung hatte.
Das Klettergerüst war weg.
Die Eichen standen noch.

Er setzte sich auf eine Bank.
Die Sonne fiel schräg durch die Äste, warf Lichtflecken auf das rissige Pflaster.

Paul sprach leise.
Nicht für andere – nur für sich.
Oder vielleicht für Walter.
Oder für den Jungen, der er einmal war.

„Ich hab dich vermisst, weißt du das?“
„Ich hab jeden Tag gewartet. Und als du nicht kamst, hab ich so getan, als wäre es egal.“
„War es nie.“

Engel legte sich neben die Bank, den Kopf auf seine Füße.
Still, wie immer.

Ein Mann kam vorbei, ein Lehrer vielleicht.
Er nickte freundlich, sagte nichts.
Paul blieb sitzen.
Noch eine Weile.

Dann zog er ein kleines Taschenmesser aus der Jackentasche.
Alt, rostig, aber noch scharf.
Walters Messer.

Er klappte es auf.
Drehte es in der Hand.
Und dann, ganz langsam, ritzte er in die Lehne der Bank:

W + P / 1965 – 2025

Zuhause angekommen, legte er das Messer zurück in das Kästchen.
Er roch an der Klinge – Metall und Erinnerung.
Dann schloss er die Kiste, mit einem Klicken, das wie ein leiser Schlussakkord klang.

Am Abend war das Licht weich, fast golden.
Die Hunde lagen auf dem Teppich.
Paul saß am Tisch, schrieb in sein Notizbuch.

„Manchmal dauert es 50 Jahre, um einen Abschied zu begreifen. Und manchmal reicht ein Hund, um ihn endlich anzunehmen.“

Am nächsten Tag, als Paul wie üblich mit Engel in der Schule war, kam Jonah wieder zu ihm.
Diesmal sprach er.
Ganz leise.

„Ich habe geträumt, dass sie fliegen kann.“
Er deutete auf Engel.

Paul lächelte.
„Weißt du“, sagte er, „ich glaube, das hat sie schon getan.“

Jonah nickte.
Dann setzte er sich neben Engel – ganz still.
Wie zwei, die ein Geheimnis teilen.

Paul beobachtete sie.
Und ihm wurde klar:
Engel hatte nicht nur ihn gefunden.
Sondern auch etwas in der Welt geheilt, das größer war als Trauer.
Sie war ein Band geworden – zwischen Generationen, zwischen gestern und heute.

Und Paul wusste nun: Der Sommer, der offen geblieben war, hatte endlich seinen letzten Tag gefunden – leise, warm und friedlich, wie das letzte Licht auf einer Kindheitswiese.

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