Teil 9: Was bleibt, wenn man geht
Es war ein Dienstag im Oktober, klar und kühl, als Paul beim Frühstück plötzlich innehielt.
Die Teekanne dampfte leise, Matty schnarchte unter dem Tisch, Engel blickte ihn ruhig an.
Er hielt die Tasse in der Hand – und dachte:
Wenn ich jetzt einfach umfiele – wer würde wissen, was zu tun ist?
Nicht in Panik. Keine Angst.
Nur eine leise, nüchterne Frage.
Er stand auf, ging zum Aktenschrank, zog die unterste Schublade heraus.
Da lagen Ritas Unterlagen, ihr letzter Wille, ihre Patientenverfügung.
Ordentlich abgeheftet, mit ihrem krakligen „R. Kramer“ auf jeder Seite.
Paul hatte seinen eigenen Ordner nie fertig gemacht.
Immer auf später verschoben.
Aber jetzt… war später längst da.
Er setzte sich an den Tisch, legte ein neues Blatt Papier vor sich.
Engel sprang auf die Couch, Matty folgte ihr langsam.
Paul schrieb:
„Letzter Wille – Paul Kramer, geb. 1956.“
Dann hielt er inne.
Schaute aus dem Fenster, wo das Licht durch das welke Weinlaub fiel.
Er schrieb weiter:
„Ich wünsche mir, dass meine Hunde, Matty und Engel, zusammenbleiben dürfen, solange es ihnen gut geht. Sollte Matty zuerst gehen, soll Engel nicht allein sein. Und wenn ich gehe, bevor sie es tun – sollen sie zu jemandem, der sie sieht, nicht nur versorgt.“
Er dachte an Lena.
Vielleicht.
Aber sie hatte ihr eigenes Leben.
Dann dachte er an Jonah.
Und an den Lehrer, der Paul nach dem letzten Besuch gesagt hatte:
„Seit Engel hier ist, spricht der Junge mehr. Nicht viel, aber… es ist wie ein Türspalt, der aufging.“
Paul nahm ein weiteres Blatt.
Schrieb darauf:
„Engel gehört niemandem. Aber sie vertraut Menschen, die still zuhören können. Wer das schafft – darf sie führen.“ư
Später rief er beim Notar an, vereinbarte einen Termin.
Nicht weil er viel besaß – das alte Haus, den Wagen, ein bisschen Erspartes.
Aber er wollte Klarheit. Ordnung.
So, wie es Rita getan hätte.
Am Abend ging er mit den Hunden eine neue Runde.
Durch das Kastanienwäldchen, an dessen Ende ein kleiner Holzschuppen stand.
Dort hatten er und Walter früher Verstecken gespielt.
Der Schuppen war noch da – schief, bemoost, von Brombeeren umrankt.
Paul blieb stehen.
Sah hinein.
Drinnen lag nur Laub und ein alter Eimer.
Aber in ihm selbst – da öffnete sich etwas.
Ein Raum, in dem nicht mehr nur Vergangenheit wohnte.
Sondern Zukunft.
Am nächsten Morgen kam der Brief von der Schule.
Ein offizieller Umschlag, aber innen war eine Karte:
Handgemalt.
Ein Hund mit Flügeln.
Und darunter in Kinderschrift:
„Danke für Engel. Sie ist wie Licht.“
Paul lächelte.
Sein Herz tat ein bisschen weh.
Aber nicht vor Schmerz – sondern vor Weichheit.
Er setzte sich wieder an den Tisch.
Diesmal nahm er ein kleines Notizbuch.
Schrieb auf die erste Seite:
„Was bleibt, wenn ich gehe“
Er zählte auf:
– Matty
– Engel
– Das Haus
– Die Briefe
– Der Apfelbaum
– Der Satz in der Banklehne
Dann hielt er inne.
Und fügte hinzu:
– Der Junge mit den stillen Augen
– Die Frau mit dem Apfelmus
– Der Nachbar mit der Gießkanne
– Und der Freund, der nie ganz gegangen war
Am Freitag besuchte er Walters Grab.
Der Wind war rau, aber trocken.
Ein paar welke Sonnenblumen lagen noch da – seine von damals.
Er tauschte sie gegen frische aus.
Engel stand still neben ihm.
Sah zum Grab, dann zu Paul.
„Du bist ein guter Hund“, sagte er leise.
„Du trägst mehr als dein eigenes Fell.“
Auf dem Heimweg hielt er am kleinen Laden im Nachbardorf.
Er kaufte drei Kerzen – eine für Rita, eine für Walter, eine für sich.
Nicht für jetzt.
Für später.
Zu Hause stellte er sie auf den Kaminsims.
Neben ein Foto von ihm und Walter, das Lena ihm nach der Beerdigung gegeben hatte.
Zwei Jungen in kurzen Hosen, mit matschverschmierten Schuhen – lachend.
Am Abend spielte er das alte Kassettenradio.
Ein französisches Chanson lief.
Engel legte den Kopf auf seinen Schoß.
Und Paul dachte:
Es ist gut, wenn man Dinge zu Ende bringen darf.
Aber manchmal ist es noch schöner, wenn sie weitergehen – in Händen, die man nie berührt hat.
Und in dieser Nacht schlief Paul ein mit dem Gedanken, dass sein Leben kein Punkt war – sondern ein Komma, hinter dem noch etwas geschrieben wird.